Travel 10/1: Von Havanna nach Trinidad

2003, Havanna: Soeben schlug ich das 702 Seiten umfassende Werk Kants zur Kritik der reinen Vernunft zu. Ich hatte mich inzwischen bis auf Seite 103 durchgekämpft und war bei dem Kapitel „Von der Deduction der reinen Verstandsbegriffe“ angekommen. Ich gebe zu, ohne Vorkenntnisse über das Gedankengebäude des weltberühmten Philosophen, hätte ich wenig von dem verstanden, was ich da gelesen hatte. Dennoch war ich schon aufgrund der sprachlichen Qualität fasziniert von der Lektüre und war fleißig dabei, die wichtigsten Passagen mit dem Kugelschreiber in verschiedenen Zeichen zu markieren. Einerseits, weil sie dermaßen intelligent geschrieben waren und andererseits, um Passagen in Erinnerung zu behalten, nach deren Sinn ich noch einmal im Internet recherchieren wollte. Ich legte das Buch weg, nahm einen Schluck von meinem Rum und blickte auf die Karibik hinaus. Neben mir saßen zwei weitere Besucher auf der Terrasse der Bar, die direkt am Malecón, der Strandpromenade von Havanna lag. Cuba hatte ich mir als Reisender einfacher vorgestellt. In den vergangenen beiden Tagen war ich stets bemüht auf der Suche nach einem Busbahnhof gewesen, von dem aus ich die anderen Teile des Landes besuchen konnte. Gefunden hatte ich nichts brauchbares, zumindest keinen Busbahnhof, an dem regelmäßig verkehrt wurde und man sich Tickets besorgen konnte, was für mich eine völlig neue Situation darstellte, war ich ja in anderen lateinamerikanischen Ländern stets gewohnt gewesen, über eine Fülle an Reisemöglichkeiten zu verfügen und auch mein Spanisch war nicht so schlecht, als dass ich mich nicht hätte durchfragen könnten. Den ursprünglichen Plan, auf die Isla de la Juventud zu fahren, um dort einige Tage zu verbringen, hatte ich längst aufgegeben. Wenn ich nicht einmal eine Bus fand, wie sollte ich dann eine Reise, die darüber hinaus noch die Überfahrt mit einem Schiff erforderte, organisieren können?

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Carolina musste zwei Meter hinter mir auf dem Bürgersteig laufen, als ich am Abend mit ihr hinunter zu einem Restaurant lief, schließlich war Prostitution in Cuba verboten, was auch gar nicht mein Ansinnen war. Vielmehr wollte ich jemanden aus der Stadt kennen lernen, um mehr über das verschlossene Land zu erfahren und da war mir ihre jugendliche Straßengang gerade recht gekommen, die mich fortwährend vor der Türe abgepasst hatte, kaum als ich das Hotel verließ. Der Deal bestand darin, dass ihre Kumpels sich zwei von meinen T-Shirts aussuchen durften und uns dafür an diesem Abend alleine ließen. Freilich wollten die Jungs irgendetwas von mir, aber anders als in Südamerika, konnte ich mich auf die Gruppe einlassen, denn Cuba war ein sehr sicheres Land, ein Polizeistaat, wo in jeder Ecke ein Polizist kauerte. Allerdings störte mich im Allgemeinen die Aufdringlichkeit der Frauen sehr, wusste man schließlich nicht, ob ein ernsthaftes und verständliches Interesse bestand, über eine Liaison das Land verlassen zu können oder ob es eher darum ging, im Nachgang eines Schäferstündchens den Reisenden um seine Bargeldbestände zu erleichtern. Tags zuvor hatte ich am Plaza de la Catedral einfach nur die Kant‘sche Kritik lesen wollen, als ich im zehn Minuten Takt von wechselnden Damen gestört worden war. Eine besonders aufdringliche junge Frau davon wollte nicht einmal gehen, als ich sie mehrfach dazu aufgefordert hatte. Die Konzentration auf die schwierige Schrift war danach freilich völlig abhanden gegkommen und ich hatte die Lektüre genervt zur Seite legen müssten. Allerdings muss ich eingestehen, wäre eine davon so ansehnlich gewesen wie Carolina, hätte ich mich schon mit ihr unterhalten. Carolina war hingegen nicht aufdringlich. Vielleicht war sie achtzehn Jahre alt, vielleicht auch nur sechzehn. Auf jeden Fall erzählte sie mir viel an diesem Abend von ihrem Leben in Havanna und von all den Schwierigkeiten, welche die Revolution für sie gebracht hatte, denn wie sonst auch überall auf der Welt, wo der Sozialismus herrschte, gab es allgegenwärtige Armut und Unterdrückung. Sie wollte auf jeden Fall noch etwas aus ihrem Leben machen und ich versprach ihr, als ich sie wieder bei ihrem Großvater in einem halb verfallenen Haus unweit von meinem Hotel abgegeben hatte, ihr zu helfen, wenn ich nach der geplanten drei wöchigen Rundreise durch das Land zurück in Havanna sein sollte.

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In Havanna (2)

Am kommenden Tag saß ich in einem Kleinbus, der ausdrücklich nur für Touristen gedacht war und an einem der besten Hotels in Havanna losfuhr. Es schien für Touristen hier die einzige Möglichkeit gewesen zu sein, von einem zum anderen Ort zu kommen, sieht man einmal von den Mietwagen ab. Das Ziel stellte die kleine, aber unter dem Protektorat des UNESCO Weltkulturerbes stehende Stadt Trinidad dar, die gut 300 Kilometer südöstlich von der Hauptstadt lag. Der Busfahrer war ein blonder Kerl, der perfektes Deutsch sprach, was mich sehr wunderte, doch bald klärte sich die Eigenart. Er gehörte zu den wenigen weißen Bürger des Landes und war in den Genuss gekommen, als ehemaliger Leistungssportler mehrere Jahre in der DDR verbringen zu dürfen. Ich unterhielt mich mit ihm über Land und Leute und man konnte kein schlechtes Wort aus ihm über seinen autoritären Staat entlocken. Man war hier wohl sehr vorsichtig, dachte ich mir, als wir an einem Gefängnis für politisch Verfolgte auf halber Strecke vorbei fuhren. Man musste schon vorsichtig sein, auf Cubas Straßen. Schlecht waren sie nicht, allerdings gab es immer wieder Bahnübergänge, die völlig ungesichert kreuzten und ich wunderte mich, ob die Mietwagenfahrer das wussten. Es dauerte etwa fünf Stunden, da kamen wir in dem idyllischen Städtchen an und zu meiner Schande war ich aufgrund der bisher weit höher als geplanten Ausgaben für die Unterkünfte nicht bereit dazu, ein Trinkgeld zu geben. Dabei wusste ich doch, dass man hier als Arzt kaum zehn Dollar im Monat verdienen konnte und es war mir ferner bekannt, wie die staatlich verabreichten Nahrungsmittelkontingente die Menschen kaum einen halben Monat ernährten.

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In Havanna (3)

In Trinidad dauerte es nicht lange, bis ich eine Unterkunft gefunden hatte. Ich wurde sehr herzlich von einem jungen Ehepaar aufgenommen, das über drei Zimmer verfügte, obwohl sie nur zwei hätten anbieten dürfen. So kam es, dass ich in einem versteckten hinteren Zimmer unterkam, welches jedoch über eine sehr schöne Aussicht auf die abfallende Landschaft bis hinunter zu dem Meer verfügte. Hier erfuhr ich auch, weswegen in Cuba die Unterkünfte im Verhältnis zu anderen Ländern in Lateinamerika so teuer waren, denn wie mir die Besitzerin erklärte, müsste sie als private Vermieterin für jedes Zimmer pauschal fünfzehn Dollar täglich an den Staat abführen. Dies galt unabhängig davon, ob es vermietet war, oder nicht und wie bereits erwähnt, waren nur zwei Zimmer erlaubt. In diesem Moment wurde mir auch bewusst, dass ich indirekt das schändliche Regime in diesem Land unterstützte. Auch wenn mir eine links verdrehte Person vor meiner Abfahrt daheim in Deutschland noch hatte weiß machen wollen, wie progressiv der kubanische Staat mit seiner sozialistischen Planwirtschaft war, ich verachtete dieses System auf das Äußerste und wurde immerdar bestätigt, wenn ich von jungen Leuten auf der Straße um eine Einladung nach Europa gebeten wurde. Dennoch stellte sich auch für mich die Frage, inwiefern es besser war, in einem Land ohne Freiheit zu leben und dafür in den Genuss absoluter Sicherheit zu kommen oder in einem freien, aber kriminellen Land wie man sie vielfach in Südamerika vorfinden konnte, sein Dasein zu fristen. Ich war rundum versorgt in meiner Unterkunft, die Besitzerin sprach gutes Englisch und kochte vorzüglich für mich. Es gab Fisch, Steaks und Hummer und auch die Frühstücke waren reichlich, doch freilich war auch das verboten, denn Touristen durften nur in offiziell lizenzierten Restaurants essen, damit auch hier der Staat zugreifen konnte. Ich wusste das und war froh, davon absehen und die Menschen hier unterstützen zu können.

Reiseberichte:

Travel Report 10/1: Von Havanna nach Trinidad
Travel Report 10/2: Auf den Spuren des Zuckerrohrs

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