Travel Report 6/2: In Gewahrsam

1995, Caracas: Als ich wieder zurück in der Stadt war, wurde ich ähnlich wie in den Tagen zuvor zum wiederholten Male von Passanten angepöbelt. Langsam begann ich zu verstehen, dass den Menschen hier mein Äußeres mit langen Haaren, Ohrringen und kurzen Hosen nicht passte und sie mich für einen Schwulen hielten. Jetzt verstand ich auch das Interesse der Soldaten in Ciudad Guyana, man hielt mich für einen Maricón und das war nicht sehr angenehm. Die Leute blieben stehen und gafften mich an oder pfiffen mir hinterher und immer wieder der Zuruf „Maricón“, „Maricón“. Irgendwie fühlte ich mich in Venezuela nicht sehr wohl, hier liebte man Basketball anstelle von Fußball, hatte man einen Central Park mit zwei Hochhäusern namens World Trade Center und war Schwarzkatholisch. Als ich mich in dem eben benannten Park auf die Wiese setzen wollte, sah ich einen blonden Wuschelkopf und dachte mir gleich, das muss doch der Amerikaner sein, den ich auf dem Schiff am Amazonas kennen gelernt hatte (Travel Report 5/3). In der Tat, er war es. Freudig über diesen glücklichen Zufall und auch darüber, dass er kolumbianischen Aquardiente bei sich  hatte, setzten wir uns gemütlich hin und tranken einen kräftigen Schluck aus der Plastikflasche, da wurden wir auch schon rüde aufgefordert, aufzustehen. Zwei Polizisten hatten sich unbemerkt an uns herangeschlichen und fauchten uns nun an, Alkohol in der Öffentlichkeit sei nicht erlaubt. Wir wurden mit auf die Polizeistation in der Nähe des Busbahnhofs, einer der übelsten Gegend in der ganzen Innenstadt genommen und in ein Hinterzimmer gesperrt in dem seitlich auch einigen Zellen eingeschlagen waren. Nach etwa zwei Stunden, durfte zuerst der Amerikaner hinaus zu den Polizisten und er verschwand für immer aus meinem Blickfeld. Als ich nach gut einer weiteren Stunde schließlich selbst in das Vorderzimmer der Polizeistation geladen wurde, grinste mich einer der Polizisten, der in einem Sessel saß und wohl der Chef hier war, breit an. Er gab mir im Namen der uniformierten Bande auf Spanisch zu verstehen, dass ich Schnaps für alle Anwesenden kaufen sollte. Zuerst verstand ich ihn nicht und als mir endlich das Ansinnen des schwarz gekleideten Schurken klar wurde, gab ich mit mehreren energischen „no entiente“ vor, der Spanischen Sprache nicht mächtig zu sein und beteuerte zudem, nicht über Geld zu verfügen, was nicht einmal gelogen war. Die gesamte Prozedur dauerte etwa eine halbe Stunde, ehe man mich endlich laufen ließ.

Am kommenden Tag wurde ich erneut bei der Botschaft und bei der Fluggesellschaft vorstellig. Weiterhin war kein Geld da und auch die Unklarheit darüber, ob ich in Kürze ab Caracas heimfliegen konnte. Die Sorgenfalten gruben sich immer tiefer in meine Stirn, es stand die Osterwoche im Jahre 1995 bevor und an Ostern, das wusste ich, war für mehrere Tage keine Hilfe zu erwarten. Wenn das Geld doch noch eintreffen sollte, ich hingegen den Flug nicht umbuchen könnte, so malte ich mir aus, würde ich in den Parque Tairona nach Kolumbien reisen und mich dort einige Wochen in einer Hängematte aufhalten, wie ich das schon im Jahr zuvor getan hatte (Travel Report 2/6). Mir würden, so meine Rechnung, etwa sechs Dollar am Tag ausreichen, anschließend könnte ich regulär von Bogota zurück nach Deutschland reisen, doch war es noch einige Wochen hin, ehe der Rückflug gebucht war. Der Gedanke fesselte mich, erinnerte ich mich doch an die hübsche Deutsche zurück, die mir dort begegnet war und mir mit ihren 24 Jahren schon so alt vorgekommen ist. Ob sie wohl noch dort wäre, fuhr es mir in den Kopf. Unsinn! dachte ich mir im nächsten Moment und konzentrierte mich wieder auf meine aktuelle missliche Situation. Zurück in der Stadt, Botschaft und die Fluggesellschaft waren in einem Geschäftsviertel etwas außerhalb, ging ich zunächst in ein günstigeres Hotel, welches nur acht statt der fünfzehn Dollar kostete, die ich bisher bezahlt hatte. Nachdem diese Sparaktion durchgeführt war, fuhr ich mit dem Bus von Caracas hinunter zum Hafen, der in der Nähe des Flughafens lag. Auf einem Hügel sitzend beobachtete ich das Geschehen dort von weitem und sah ein Schiff mit Deutscher Flagge, bemerkte aber auch die Wachen, die am Eingang des Hafens patrouillierten. Ich nahm mir ein Herz und näherte mich dem Eingang, kam dort zu einem äußerst günstigen Moment an, die Wachen waren nicht zu sehen und schlich mich auf das Gelände. Auf der anderen Seite des Piers erreichte ich das Schiff, es war ein kleinerer Frachter, dessen Deck leicht einsehbar war. Ich warf der einzigen Person an Bord die Frage zu, ob er ein Deutscher sei. „Ja“ wurde mir geantwortet, worauf ich ihm freudig meine Geschichte erzählte. Ob ich denn mitfahren könnte, fragte ich, falls ich dazu bereit wäre für umsonst zu arbeiten. Meine Frage wurde bejaht, doch hatte die Sache einen Hacken. Ehe man nach Deutschland zurückkehren würde, so der Matrose, müsste man noch in Fort Lauderdale in Florida vorbeifahren. Schlussendlich sollte die Reise drei Monate dauern, was für mich aber kein Problem darstellte, schließlich war ich zeitlich völlig ungebunden. Es hatte sich ein Hintertürchen für die Heimreise aufgetan, ein abenteuerliches dazu, dachte ich. Auch hatte ich etwas Zeit gewonnen, das Schiff sollte erst in einigen Tagen ablegen.

Am nächsten Tag erwachte ich morgens in dem engen Zimmer meines neuen Hotels. Trotz aller Sparanstrengungen gefiel es mir überhaupt nicht in dieser Unterkunft. Als ich die Gemeinschaftsduschen betrat, sah ich eine riesige Kakerlake auf dem Duschkopf, was mir das unappetitliche Ambiente noch einmal deutlich vor Augen führte und mir den Rest gab. Ich packte meine Sachen zusammen und machte mich wieder in mein ursprüngliches Hotel auf, welches einige Straßenblöcke entfernt war. Nachdem ich dort eingecheckt war, wollte ich einige hundert Meter die Straße weiter unten einen „Perro Caliente“ essen gehen. Ich musste immer lachen, wenn ich an die wörtliche Übersetzung aus dem Englischen dachte, doch als ich die plötzlich mitten auf der Straße die uniformierten Ganoven auf mich zukommen sah, verzog sich mein Humor auf einen Schlag. Unhöflich wurde ich aufgefordert, meine Papiere zu zeigen, die ich nicht bei mir hatte. Ich deutete auf das Hotel, welches noch in Sichtweite war und bat die Polizisten mitzukommen, doch alles half nichts, ich musste erneut zur Polizeistation. Dieses Mal verfuhren die Schwarzuniformierten nicht sehr zimperlich mit mir, die gesamte Nacht verbrachte ich in dem Vorzimmer, da ich erneut das Bestechungsvorhaben in Form einer Schnapsflasche strikt ablehnte. Zunächst war ich noch der einzige Anwesende, doch mit zunehmendem Zeitverlauf befüllte sich meine Umgebung immer mehr mit betrunkenen und zahnlosen Gestalten. Auch die Zellen hinter dem Vorraum waren am Ende der Nacht von einem überwiegend tätowierten und recht grimmig dreinschauendem Volk befüllt. Erst am kommenden Morgen durfte ich wieder hinaus, es war der letzte Tag vor dem großen Osterfest.

Schnell duschte ich in meinem Hotel nach der wenig erholsamen Nacht und fuhr dann in aller Eile zur Botschaft. Endlich war das Glück auf meiner Seite, das Geld aus Deutschland war eingetroffen und auch im benachbarten Büro der Britisch Airways erreichten mich gute Nachrichten. Es war möglich schon in einigen Tagen ab Caracas zurück nach Deutschland zu reisen, im Nu hatten sich alle meine Probleme in Luft aufgelöst. Fröhlich machte ich mich zurück in die Innenstadt und feierte in einem Lokal in der Nähe meines Hotels. Ich wollte nun nichts mehr anbrennen lassen und noch ein paar ruhige Tage in Venezuela verbringen. Zurück in meinem Hotel traute ich meinen Augen kaum. Fünf schwer bewaffnete Polizisten, einer davon mit einem Maschinengewehr im Anschlag, bereiteten mir einen heftigen Empfang. Als ich in der Nacht zuvor verhört geworden war, hatte ich mitgeteilt wo ich wohnte und wo mein Reisepass zu finden war. Man eskortierte mich auf mein Zimmer und alles wurde auseinander genommen, wobei auch ein Drogenhund zum Einsatz kam. Als die Tortur endlich vorbei war und die Polizisten unverrichteter Dinge abgezogen, stand ich vorwurfsvoll und mit erhobener Stimme an der Rezeption und verfluchte Venezuela für alles was ich hier hatte erleben müssen. Kleinlaut spendierte mir das Personal auf Kosten des Hauses einen Drink an der Hotelbar. Wenige Tage später war der Spuk endlich vorbei. Ich hatte mich bereits früh morgens an den Flughafen aufgemacht um hier die letzten Stunden einer langen Reise, die sich über mehrere Monate Jahr erstreckt hatte, zu erholen und um mich vor weiteren Übergriffen seitens der Polizei wie auch von den Beleidigungen der Bevölkerung in Schutz zu bringen. Inzwischen war ich mit einem Gewicht von nur noch 57 Kilogramm ziemlich stark abgemagert und war froh, im Flugzeug in Richtung London endlich wieder einmal etwas richtiges zu Essen zu bekommen.

Reiseberichte:

Travel Report 3/1: In den Krieg
Travel Report 3/2: Kontrolle in Trujillo
Travel Report 3/3: Am Titicaca See
Travel Report 4/1: Durch die Klimazonen
Travel Report 4/2: Am Ende der Welt
Travel Report 4/3: Zu den Christen
Travel Report 5/1: Mode und Prostitution
Travel Report 5/2: Betrunken im Bus nach Belem
Travel Report 5/3: Am Amazonas
Travel Report 6/1: Durch den Urwald
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