Travel Report 07/1: Nach Süden statt nach Norden

1997, Delhi: Von den Südamerikareisen war ich schon einiges gewohnt, einen vergleichbar heruntergekommenen Bus wie vor dem Flughafen in Delhi hatte ich aber noch nie gesehen. Verbeult, verrostet, technisch in katastrophalem Zustand, ohne Windschutzscheibe und vollgestopft mit dunklen Leuten. Ich quetschte mich auf den letzten Platz vorne direkt neben dem Busfahrer und war auf der Fahrt in Richtung New Delhi Railway-Station sehr verwundert über die vielen Gestalten, die am Straßenrand halb nackt da saßen und in den Tag hinein lebten. Dem Kontrolleur hatte ich mitgeteilt, an den Main Bazar fahren zu wollen und ihn gebeten, mich dort heraus zu lassen. Er meinte, alle Hotels und Unterkünfte am Bazar wären teuer, schmutzig, außerdem ausgebucht und er hätte einen besseren Tipp für ein hervorragendes Hotel direkt im Zentrum. Mir kam das nicht geheuer vor und ich machte jede Wette, er wollte eine Provision kassieren. In der Stadt angekommen, achtete ich penibel darauf, den Ausstieg aus dem Bus nicht zu verpassen. Als mich der Kontrolleur mit seinen Beteuerungen erneut in die Irre leiten wollte, sprang ich auf die Straße und provozierte dadurch ein paar zornige Worte, die mir von ihm hinterher geschleudert wurden. Ich hatte Glück, die Railway Station war gleich um die Ecke. Als ich sie durch einen Hintereingang betrat, verlor ich kurz die Orientierung, atmete erst einmal durch, ging dann langsam weiter. Ich hatte mit einem Bündel von Kleidern, das fünf Kilogramm wog, prinzipiell mein bisher leichtestes Gepäck dabei, das ich je zuvor auf Reisen mitgenommen hatte, wäre da nicht noch die Hantel mit einem Gewicht von zwanzig Kilogramm gewesen, die wie ein Mühlstein quer in meinem Rucksack lag. Schnell durchquerte ich die düsteren Hallen und fand bald den Haupteingang und somit den Weg nach draußen zu dem Bazar. Vor dem Bahnhof überwältigte mich der Anblick der Menge an Menschen, die sich einem Ameisenhaufen gleich unter mir durch die Straßen  in regem Treiben hin und her bewegten.

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Auf dem Currymarkt

Vom Bahnhof aus war die Main Bazar Road einfach auszumachen, schnell lief ich sie hinauf und fand nach einigen erfolglosen Anläufen in halb zusammengefallenen Pensionen schließlich eine passende Unterkunft. Mein Plan war es, insgesamt acht Wochen lang den indischen Subkontinent und seine Ausläufer zu bereisen, wobei der Schwerpunkt das nördlich gelegene Nepal bilden sollte. Auf der Straße hatte mich bereits ein Reisevermittler angesprochen und mir als Empfehlung Kashmir anstelle von Nepal angedient, ich lehnte jedoch ab, da ich die politische Lage in der umkämpften Region als zu instabil einschätzte. Als ich später das Hotel verließ und ein Restaurant aufsuchen wollte, stand er schon wieder da, als hätte er die ganze Zeit gewartet und beschwor mich mit weiteren Beteuerungen über die Vorzüge und die Schönheiten Kashmirs. Ihn loszuwerden war ein äußerst anstrengendes Unterfangen und es gelang mir erst, als ich das Restaurant betrat. Unvertraut mit der indischen Küche bestellte ich mir ein Tandoori Chicken mit Reis und war über die ungeheure Schärfe des Gerichtes verwundert ohne zu ahnen, dass es sich bei dem Feuerhühnchen noch um eine vergleichsweise milde Mahlzeit handeln sollte. Zurück auf der Straße wartete erneut der Reisevermittler und er schaffte es tatsächlich, mich in sein Büro zu locken, um mir anhand von einem Bildband die Möglichkeiten einer Reise  Kashmir schmackhaft zu machen. Ich lehnte erneut ab, buchte aber eine Delhi Sightseeing Rundfahrt für den folgenden Tag. Den Rest des Tages vertrieb ich mir in den engen Gassen des Bazars und trat dabei aus Spaß eine Rikschafahrt durch das Labyrinth der Händler und Verkaufsstände an. Der alte Fahrer kämpfte sich ab, so ein Engagement musste belohnt werden, dachte ich als wir etwa die Hälfte der vereinbarten Dauer von einer halben Stunde in den schmalen, dunklen und dicht bevölkerten Gassen zurückgelegt hatten. Dann fuhr mir plötzlich in den Kopf, dass ich den Preis nicht vorab ausgehandelt hatte und jetzt wohl über das Ohr gehauen werden würde. Zurück an der Delhi Railway-Station verlangte der alte Fahrer umgerechnet zehn US-Dollar für seine Dienstleistung. Ich hatte viele Sympathien für den Greis und war bereit das Geld zu bezahlen, allerdings schämte ich mich auch dafür, gleich am ersten Tag wie Anfänger über den Tisch gezogen worden zu sein und versuchte den Vorgang so diskret wie möglich abzuwickeln. Doch als ich aufschaute, starrten mich die Passanten mit erschrockener Miene an. Wahrscheinlich hatte ich mehr bezahlt, als ein Rikschafahrer in einer ganzen Woche üblicherweise verdiente.

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Mit der Riksha

Schon in der Nacht gerieten meine Nepal Pläne gehörig ins Wanken. Zwar verfügte ich über eine dicke Decke im Bett des fensterlosen Zimmers meines Hotels, doch lag ich auf gespannten Bastschnüren. Aufgrund der fehlenden Matratze  schlich sich die Kälte von unten heran, ich musste in voller Kleidung schlafen und fror trotzdem noch. Angemessene Ausrüstung für Nepal habe ich also nicht dabei, überlegte ich mir, meine zwanzig Kilo schwere Hantel konnte mir bei dem Problem ja schwerlich weiterhelfen. Ob ich bei dieser Kälte in den viel höher gelegenen Regionen des Nachbarlands tatsächlich bestehen konnte, hielt ich angesichts der nächtlichen Erfahrung für unwahrscheinlich. Es war Mitte Januar, tagsüber bei Sonnenschein hatte es fünfundzwanzig Grad, aber des Nachts kam die Temperatur dem Gefrierpunkt nahe. Als ich am frühen Morgen des folgenden Tages aufgrund dieser Erkenntnis etwas betrübt die Straße betrat, herrschte eine ungewohnte Atmosphäre vor. Das Rinnsal der Verwesung, wie ich den kleinen offenen Abwasserkanal nannte, der überall am Straßenrand zu finden war, dampfte fröhlich vor sich hin. Die Luft war von faulen Gerüchen geschwängert und es war noch immer sehr kühl. Erst als die ersten Sonnenstrahlen auf die Straße leuchteten hellte sich auch meine Gefühlslage auf und ein schöner Tag stand bevor. Ich trat meine Sightseeing Tour zu den Sehenswürdigkeiten der Stadt an, ein Höhepunkt und gleichzeitig auch ein Tiefpunkt stellte das Red Fort dar. Faszinierend die Architektur und abstoßend die Bettler. Einem kleinen Mädchen, das meiner Einschätzung nach nicht älter als fünf Jahre gewesen sein konnte und mit einem Baby auf dem Arm da stand, kam meine Alimentation von einem Dollar in Rupien zu gering vor. Aggressiv ging mich das Bettelkind an und verlangte einen Nachschlag, dabei hatte ich schon den ersten Dollar ganz entgegen meiner Vorsätze ausgehändigt. Zur Schule gehen soll der kleine Teufel, dachte ich, denn ich war fester Überzeugung, dass die Unterstützung von bettelnden Kindern eine kontraproduktiv Auswirkung hat. Drei Jahre zuvor  in Kolumbien hatte ich Menschen gesehen, die von ihren Eltern nur zum Bettlerzweck verkrüppelt geworden waren, um aufgrund des Mitleid erregenden Zustandes zu höheren Einkünften zu kommen, solches Mitleidgeschäft war mir suspekt.

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Blick vom Red Fort

Zwei Tage später, die mir der Reiseagent mit seinem Kashmir Angebot beständig nervend auf den Fersen geblieben ist, schaute ich verwundert vom Portal der New Delhi Railway-Station auf die Szene, die sich unter mir darbot. Ein Motorradrikschafahrer hatte einen Hund überfahren und nun stand ein Halbkreis von Menschen um ihn herum, die böse auf ihn einschimpften, während er neben dem reglosen Geschöpf auf den Knien liegend um Abbitte flehte. Der Hinduismus hatte andere Regeln, die ein Europäer nur schwer verstehen konnte. Jedenfalls musste der Mann nun befürchten, in einem anderen Leben noch weiter die Kasten hinabzusteigen. Der Buddhismus, der im nördlich gelegenen Nepal praktiziert wurde, war da nicht so streng. Doch alle meine Pläne dort hin zu reisen, hatte ich inzwischen schweren Herzens zu Grabe getragen, anstelle dessen sollte es in den warmen Süden weiter gehen. Als nächstes Ziel war Agra angepeilt, um dort das Taj Mahal zu besichtigen. Einen kurzen Abstecher nach Varanasi, wo die Inder zur seelischen Beruhigung in den verdreckten Ganges steigen, hatte ich mir auch überlegt, aufgrund des damit einhergehenden Umwegs das Vorhaben jedoch wieder verworfen. Ich war nun seit vier Tagen in Indien und noch nicht ein einziges Mal ordentlich auf der Toilette gewesen. So etwas hatte ich noch nie erlebt, die Umstellung für den Magen aufgrund des scharfen Essens, das mir immer mehr zusagte, muss immens gewesen sein. Allerdings gab es trotz des bis dahin ausgefallenen Stuhlgangs keine negativen Auswirkungen auf mein Wohlbefinden. Vielleicht war der Grund auch im bisher ausgebliebenen Alkoholkonsum zu suchen, der mich vor Magenbeschwerden verschonte. Zwar war mir einmal ein englischer Pub ins Auge gefallen, sonst hatte ich aber noch kein Angebot von alkoholischen Getränken zur Kenntnis nehmen können. Ich war also fit für die Weiterreise und die Zeit des Aufbruchs war gekommen. Am nächsten Tag sollte der Zug offiziell gegen zehn Uhr morgens von der Railway-Station nach Agra abfahren. Ich nahm mir vor, so gegen zwölf Uhr dort zu sein, denn zwei Stunden Verspätung war laut meinen Informationen das Minimum, was man einkalkulieren musste.

Reiseberichte:

Travel Report 7/1: Nach Süden statt nach Norden
Travel Report 7/2: Zwischen Teppich- und Peitschenhändlern
Travel Report 7/3: Zwischen Panzern und Party
Travel Report 7/4: Zwischen Tempeln und Palästen
Travel Report 7/5: Entkräftet

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