Travel Report 07/5: Entkräftet

1997, Goa: Die Zeit war gekommen, nach Goa zurückzufahren. Meine Hantel, die noch immer wie ein Mühlstein in meinem Rucksack lag, hatte ich in den letzten gut sechs Wochen, seit ich hier in Indien war, noch nicht benutzt und machte mir nun ernsthafte Gedanken darüber, sie los zu werden. Auch auf der Rückfahrt in die ehemalige portugiesische Enklave am indischen Ozean störte sie erneut merklich, als ich den Rucksack auf das Dach des Minibusses heben wollte, was aufgrund des Gewichts erst nach dem dritten Anlauf gelang. Noch aber sollte sie nicht entsorgt werden, das, so überlegte ich mir, könnte ich in Goa tun. Nach mehr als zwölf Stunden in einem sehr beengten Bus, der wohl für deutlich kleinere Passagiere konzipiert worden war, erreichte ich erneut Panjim, von wo aus es zu dem vertrauten Calangute nur noch einen Katzensprung war. Eine Gruppe von Indern mit einer Boa Schlange passten mich am Busbahnhof ab und freuten sich diebisch, als ich gegen ein kleines Trinkgeld das Tier um den Hals legte und ein Foto von mich machen ließ. In Calangute wohnte ich in der selben Unterkunft wie bereits zwei Wochen zuvor, doch nun umgaben mich neue Nachbarn. Einerseits war ein Endländer gleich um die Ecke eingezogen, andererseits wohnte ein Deutsches Pärchen im benachbarten Zimmer, das hier zu meinem Missfallen gut von Arbeitslosengeld lebte und dies auch für viele Monate tun konnte, da man in der Heimatstadt Dortmund nicht regelmäßig beim Arbeitsamt erscheinen musste.

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Goa am Strand

Am ersten Morgen nach meiner Rückkehr an den Traumstrand, wurde ich von einem Pfeifenmeister geweckt. Er wollte sich ein kleines Trinkgeld verdienen, welches ich ihm bereitwillig zusteckte, um das blecherne Geräusch seines überdimensionierten Instruments aus meinen Ohren zu bekommen. Ich machte mich auf zum Strand, wo über einen Kilometer verteilt gut hundert barbusige Frauen lagen, kaum eine davon war ansehnlich, so dass ich mich ziemlich ekelte. Neben mir hatte ein Hundepärchen Sex, was ebenfalls recht unansehnlich war und ich mich der Strandbar zuwandte. Nach ein oder zwei Bieren bummelte ich den Strand entlang, sprang ins Wasser, lief hoch und runter und wusste nicht so recht, was ich mit dem Tag anfangen sollte. Zurück an der Strandbar hatte ich erstmals Kontakt mit dem Engländer aus meiner Nachbarschaft, der gerade eine Flasche Rum öffnete und diese mit Cola mischte. Er hatte mich am Abend zuvor bereits auf der Terrasse meiner Unterkunft gesehen und hieß mich herzlich dazu willkommen, mit ihm ein paar Drinks zu nehmen. Wir saßen von etwa zwölf Uhr mittags bis gegen vier Uhr am Nachmittag in der Bar, ehe wir uns gut angeheitert auf einem Motorradroller in Richtung Norden aufmachten. Die erste Station war erneut eine Bar, etwa drei Kilometer entfernt, in der wir weitere zwei Stunden verbrachten. Danach ging es mit dem Roller weiter. Mir war nicht gut bei dem Gedanken, dass kürzlich hier ein anderer Tourist buchstäblich unter die Räder gekommen war und sich bei einer Kollision mit einem Auto auf dem Roller beide Beine gebrochen hatte, schließlich vergaß ich vor der Abreise eine Krankenversicherung abzuschließen. Die berüchtigten Sandbänke zwischen Calangute und Vagator konnten wir ohne weitere Probleme passieren. Dies war allerdings auf dem Roller nur mit einer sehr geringen Geschwindigkeit möglich, so dass ich mir gut vorstellen konnte, wie schwierig es sein musste, Nachts hier von der Polizei zu flüchten, welche wie bereits erwähnt, die Angewohnheit hatte, solche Leute wie uns die Bambusstöcke in die Speichen zu rammen und ein Lösegeld für die Weiterfahrt zu erpressen (Travel 07/3).

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Schlangenbeschwörer

Gut fünf Stunden später wanderte ich durch die düster beleuchteten Trampelpfade zwischen den Lichtungen hin und her, in denen sich die Techno Party abspielte, auf der ich mich inzwischen befand und wunderte mich über die grellen Reflektionen des Mondes und die sanfte Atmosphäre, die mich umgab. Überall um mich herum waren wunderschöne Frauen aus Israel und die DJs war extra aus Tel Aviv eingeflogen worden, um hier am indischen Ozean zwischen den Palmen einer abgelegenen Meeresbucht mit heißen Rhythmen die Partygesellschaft zum Kochen zu bringen. Nach unserer Ankunft am frühen Abend mit dem Motorroller hatten wir noch eine dritte Bar direkt am Strand besucht, um die Pre-Party zu der Techno Party zu feiern. Hier lernten wir bereits etliche Menschen aus Israel kennen, die uns erzählten, dass sie nach ihrem Militärdienst ein halbes Jahr Freizeit bekommen haben und diese jetzt dazu nutzen würden, in Goa zu feiern. Deswegen stand auch der Panzer der Drogenpolizei aus Bombay in Calangute, dachte ich mir. Wie mir berichtet wurde, hatte die Israelische Regierung Druck auf Indien ausgeübt, da viele Soldaten beim Feiern in dieser Hippiehochburg ihre Kampf- und Einsatzfähigkeit verloren, sollten sie nicht gleich im Irrenhaus einige Kilometer weiter nördlich oder im Gefängnis einige Kilometer weiter südlich gelandet sein (Travel 07/3). Nach einigen Bieren an der Bar waren wir zusammen mit den Israelis an diesen kunterbunten Party-Ort gekommen, an dem die größte der bisher von mir besuchten Feierlichkeiten zu Gange war. Die Nacht war wie ein Märchen, die Musik umgab uns in abwechselnd langsamen und schnellen Basstönen und erzeugte durch die perfekte Mischung aus Elektro und Trance eine einzigartige Gefühlslage bis in den frühen Morgen hinein, ehe ich mit meinem Nachbarn nach Calangute zurückfuhr, um dort an der Strandbar die Party ausklingen zu lassen.

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Full Moon Party

Nach gut zwei Wochen, in denen sich der Engländer als eine perfekte Bekanntschaft heraus gestellt hatte, die genau meine Idealvorstellung von einem anzustrebenden Lebensstil verkörperte, war ich entkräftet. Fast jeden Abend gab es in der Umgebung ein Event, das bis in die frühen Morgenstunden dauerte. Die letzten drei Tage kam ich gänzlich ohne Schlaf aus und befand mich permanent zwischen Beach Bar, Elektro-Party und Sandstrand. Die Nahrungsmittelzufuhr war unregelmäßig und wurde am Ende ganz eingestellt, was sich bald äußerst negativ auf mein Wohlbefinden durchschlug. Am Tag als ich mich von allen verabschieden musste, um nach Bombay zu fahren, von wo aus mein Flugzeug zurück nach Deutschland gehen sollte, war ich zu schwach, um meinen Rucksack mit der Hantel allein zum Bus zu tragen und musste einen Träger engagieren, der mich zusammen mit dem Gepäck auf einem Fahrrad zur Bushaltestelle brachte. Erst im Verlauf der Busfahrt besserte sich mein schlimmer Zustand, der eine ganze Zeit lang noch von Schweißausbrüchen und Übelkeit bekleidet war. Die letzten beiden Tage in Bombay verliefen ruhig und es ging mit meiner körperlichen Verfassung stetig bergauf. Kurz vor dem Abflug hielt ich einen funkelnden Edelstein in der Hand, den ich bei einem Händler noch schnell gekauft hatte. Das gute Stück sollte aber zu meinem Leidwesen nie seinen Empfänger finden.

Reiseberichte:

Travel Report 7/1: Nach Süden statt nach Norden
Travel Report 7/2: Zwischen Teppich- und Peitschenhändlern
Travel Report 7/3: Zwischen Panzern und Party
Travel Report 7/4: Zwischen Tempeln und Palästen
Travel Report 7/5: Entkräftet

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Travel Report 07/4: Zwischen Tempeln und Palästen

1997, Südindien: Der Aufenthalt in Goa hatte sich ziemlich negativ auf mein Reisebudget niedergeschlagen. Ich beschloss daher mich weiter nach Süden und ins Landesinnere zu begeben, um mich zunächst finanziell zu konsolidieren und später wieder nach Goa zurückzukehren. Teilweise hatte ich auf den Partys an einem Abend mehr Geld liegen lassen, als ich sonst in einer halben Woche verbrauchte. Ich nahm den Bus nach Hampi, wo es historische Stätten zu besichtigen gab. Aus dem Busfenster sah ich bei der Abfahrt, wie ein erwachsener Mann einen anderen erwachsenen Mann ohrfeigte, wobei die Beiden ihre Köpfe immer hin- und her schüttelten, andere Kulturen, andere Sitten. Neben mir saß ein alter Greis, der sofort nach Abfahrt des Busses mit seinem Kopf auf meiner Schulter einschlief. Mich störte das, doch wollte ich nicht unhöflich sein und ihn aufwecken. Daher hoffte ich, dass er aufgrund der Erschütterung durch die schlechte Straße irgendwann von selbst aufwachen würde. Nichts davon, fast die gesamte Fahrt von acht oder neun Stunden hüpfte sein Kopf wie ein Ping-Pong-Ball auf meiner Schulter herum, bei dem einen oder anderen etwas tieferen Schlagloch dürfe die Aufprallhöhe gut einen halben Meter betragen haben. Endlich angekommen, wunderte ich mich, ob nun meine Schulter oder sein Kopf mehr gelitten hatte, meine Schulter schmerzte auf jeden Fall ziemlich arg. Am folgenden Morgen stand ich an dem Busbahnhof und sah dort einen alten Mann schottischer Herkunft stehen, der mir des Öfteren schon in Goa über den Weg gelaufen war. Da wir an diesem Tag das selbe Ziel hatten und den berühmten Tempel von Hampi besichtigen wollten, identifizierten wir anhand einer Karte die Distanz bis dorthin, um  von dem Fahrer einer der Rikschas nicht über das Ohr gehauen zu werden. Als wir aufblickten hatte sich ein Doppelkreis von Menschen um uns herum gebildet, jede Bewegung unsererseits wurde mit einer Mischung aus Misstrauen und Neugierde beobachtet. Die Gaffer waren wieder da, so dass wir schnellstmöglich in eine der wartenden gelben Rikschas stiegen.

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Tempel von Hampi

Die Tempelanlage von Hampi war beeindruckend. Eine der letzten großen Hindureiche war in dem Unesco Weltkulturerbe im späten Mittelalter ansässig gewesen und dort wo jetzt die Affen auf den Mauern herumsprangen, residierten einst die Könige von Vijayanagar, die den gesamten südlichen Subkontinent Indiens unterworfen hatten. Auf dem Weg war mir ein kunterbunter Ganesh Tempel aufgefallen, der kitschig wie er war, überhaupt nicht zu den alten Tempeln und Palästen passte. Indien, ein Land der Gegensätze, dachte ich mir. Nachdem wir die Tempel besichtigt hatten, schlenderten wir noch eine Weile in der Gegend herum, bis wir an einem Dorf in der Nähe der Anlage ankamen und der alte Schotte eine Frisbeescheibe aus dem Rucksack herauszog. Wir warfen das Fluggerät einige Male hin und her, ehe die ersten Dorfbewohner sich am Seitenrand unseres Spielfelds formierten. Je länger wir dem Zeitvertreib nachgingen, desto mehr Leute erschienen. Verfehlte das Frisbee einmal sein Ziel, so waren die kleinen Jungen schnell dazu bereit, uns das Spielgerät zurück zu bringen. Nach etwa einer viertel Stunde war wohl bereits das gesamte Dorf anwesend. Frauen, Männer, Alte, Kinder, alle beobachteten uns und je nach Flugrichtung des Frisbees wendeten sich die Köpfe wie ein eingeübtes Manöver von Paradesoldaten hin und her. Flog die Scheibe einmal außer der Bahn, waren es nun die erwachsenen Männer, die sie uns zurückbringen wollten und es entstand jedes Mal ein handfester Streit zwischen den Buben und den Männern um dieses Privileg. Es wurde gezerrt und gezogen, bis einer die Scheibe ergattern und sie uns mit einem breiten Lächeln überreichen konnte. Überwältigt von so viel Aufmerksamkeit bedankten wir uns nach einiger Zeit und machten uns zurück nach Hampi auf.

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Palast von Mysore

In den folgenden Tagen fuhr ich über Bangalore nach Mysore weiter. Hier wohnte ich auf dem Dach eines recht billigen Hotels und hatte, wie schon in Südamerika und auch mehrfach auf dieser Reise, einen Gecko im Zimmer. War mir das kleine Tier zunächst nicht sehr willkommen gewesen, schätzte ich es inzwischen, da es die ganzen Moskitos von der Decke fraß und ich meine Ruhe vor den Fliegen hatte. Das Essen in Mysore war ausgezeichnet und je nachdem in welchem Restaurant ich war, schmeckte der Reis immer unterschiedlich. Jeder Koch schien seine selbst kreierte Variante des indischen Currys zu mischen, die immer Feuerscharf war und nichts mit dem gelben Pulver von zu Hause gemein hatte. In Mysore gab es verschiedene Dinge zu tun. Zunächst besuchte ich die Amba Vilas, einer der berühmtesten Paläste in Indien und Sitz der hiesigen Maharajas.  Später wanderte ich den Hausberg hinter der Stadt hinauf. Von hier oben sah ich, wie klein sie war, obwohl hier 700.000 Menschen wohnten. Das lag nach meinem Verständnis wohl daran, dass jedes Gebäude mit Menschen überfüllt war, die darinnen auf engstem Platz lebten. Ich schätze, die Stadt war lediglich so groß wie eine Stadt in Deutschland mit vielleicht 40.000 Einwohnern. In den kommenden Tagen besuchte ich die Sehenswürdigkeiten der Stadt. Neben den prachtvollen Palästen zählte der Aufstieg der 1.000 Stufen des Chamundi Hügels zu den Highlights, wo ich dem großen Nandi-Bullen begegnete, der als Wächter des Tores zu der Gottheit Shiva fungiert. Das steinerne Götzenbild war aufopferungsvoll mit Blumen geschmückt worden und sah bedeutend besser aus, als seine noch lebenden Gefährten, die heiligen Kühe auf den Straßen. Im Gegensatz zu unserer Kultur verfügten sie zwar über das Privileg, nicht auf dem Steakteller zu landen, doch waren sie oftmals in einem bemitleidenswerten Zustand. Teilweise fehlten ihnen ganze Körperteile, die durch Unfälle,  Krankheiten oder Infektionen abhanden gekommen waren.

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Der große Buddha

Nachdem ich mir in Mysore alles angesehen hatte, entschloss ich mich, Tagesausflüge in die Umgebung anzutreten. Zuerst fuhr ich mit dem Bus nach Shravanabelagola wo es einen überdimensionierten Buddha gab und wo die Jain wohnten, von denen Adolf Hitler womöglich sein Hakenkreuz entlehnt hatte. Der Bus donnerte auf der gewölbten Straße hinunter und wich nur hier und dort einem Lastkraftwagen aus. Es galt das Recht des Stärkeren und der Stärkere fuhr immer auf der Mitte der Straße, vermutlich um sein Reifenprofil zu schonen. Die kleineren Transporter mussten uns ausweichen, die Autos wichen den kleineren Transportern, Lastkraftwagen und den Bussen aus, die Motorradrikschas den Autos, die Motorräder den Motorradrikschas, die Fahrradrikschas den Motorrädern, die Mopeds den Fahrradrikschas, die Fußgänger allen übrigen und die Eselskarren befanden sich irgendwo zwischen den Motorradrikschas und den Autos. Als eines der sieben Wunder Indiens konnte man schon einiges erwarten, doch der Buddha in Shravanabelagola war noch weitaus größer, als ich mir ausgemalt hatte und er befand sich zudem in Mitten einer riesigen Anlage von unterschiedlichen Tempeln, Statuen und künstlichen Seen. Großartig, dachte ich, als ich die gut zwanzig Meter hohe weiße Statue sah. Die Inder hatten es sich allerdings nicht verkneifen können, dem Steinbild ein vorne herunter baumelndes Geschlechtsteil zu verpassen, so dass nicht wirklich die religiös zurückhaltende, feierliche Stimmung aufkam, die man sich an solch einem Ort wünschen konnte. Hier und dort sah ich auch einen Jain, der mit Mundschutz vorsichtig über die Steine lief, um keine Fliegen einzuatmen und kein Gras zusammen zutreten.

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In Karnataka

Der zweite nennenswerte Tagesausflug sollte in den Bandipur Nationalpark führen, wo ich einen Tiger sehen wollte. Früh am Morgen machte ich mich auf und erreichte die Ranger Station so gegen zehn Uhr. Ich hatte keine Ahnung, wie das alles von Statten gehen sollte, doch man konnte angeblich auf einer geführten Tour mit Elefanten in den Park ausreiten. Einer der Ranger, ein dunkelhäutiger Mann mit weißen Haaren klärte mich auf, die Touren würden am Nachmittag starten und gut drei Stunden dauern. Oftmals wären sie überfüllt, doch könnte ich ihm bereits jetzt das Geld aushändigen, dann wäre ich später sicher dabei. Ich vertrieb mir die Zeit unter einem Baum liegend und wartete und wartete. Gegen ein Uhr bekam ich Gesellschaft von einer Gruppe von Indern, die dem Anschein nach ebenfalls in dem Park arbeiteten, wohl aber nicht  den Status eines Rangers begleiten durften. Gut eine Stunde später verschwanden sie wieder und ich war erneut am Warten. Wenn es hier so viele Leute gibt, die eine Elefantentour mitmachen wollten, so müsste doch bald ein Tourist hier auftauchen, dachte ich. Gegen fünfzehn Uhr fragte ich in der Ranger Station nach dem Trip. Heute wäre kein Elefantenritt geplant, wurde mir mitgeteilt, worauf ich mich auf die Straße vor der Station begab und kurz überlegte. Bin ich dem Ranger am Morgen auf den Leim gegangen? Ich konnte es nicht fassen. Schnell eilte ich in die Station zurück, um die Männer dort zur Rede zu stellen. Schnell meinte ich auch schon, den Übeltäter erkannt zu haben und bezichtigte ihn, mir Geld ohne eine Gegenleistung abgenommen zu haben. Da blickte ich nach links, nein, dachte ich, der war es doch. Ja, der muss es gewesen sein, da war ich mir sicher und lenkte meine Aufmerksamkeit auf einen zweiten Ranger, der ebenfalls weiße Haare hatte. Fünf Minuten später saßen wir an einem Tisch um das Problem zu klären, denn ich war außer mir. Als ich nach einer Zeitlang sinnentleerten Diskutierens merkte, dass alles nichts half, weil ich die dunklen Gesichter unter den weißen Haaren nicht auseinander halten konnte, bekam ich einen Wutanfall und rannte wild fluchend von der Station auf die Straße. Wie von Himmels Hand gesendet rauschte gerade der Bus an, der eigentlich nur unregelmäßig alle paar Stunden kommen sollte und den ich sofort herunter winkte, um mich mit bösen Gesten und schlimmen Worten von den Gaunern zu verabschieden. Es war mir klar, dass ich  meine letzte Hoffnung, in Indien neben den Tempeln, Götter und Slums auch etwas Natur zu sehen abrupt zu Grabe tragen konnte.

Reiseberichte:

Travel Report 7/1: Nach Süden statt nach Norden
Travel Report 7/2: Zwischen Teppich- und Peitschenhändlern
Travel Report 7/3: Zwischen Panzern und Party
Travel Report 7/4: Zwischen Tempeln und Palästen
Travel Report 7/5: Entkräftet

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Travel Report 07/3: Zwischen Panzern und Party

1997, Goa: Bis nach Bombay war es eine weite Strecke, die ich aus Agra kommend über Nacht im Zug zurücklegen musste. Freilich war die Bahn erneut mehrere Stunden verspätet gewesen und ich hatte eine halbe Ewigkeit am Bahnhof warten müssen. Im Zug war ich in einem Schlafabteil der zweiten Klasse im obersten der drei Betten untergebracht, in dieser Wagon-Kategorie befand sich auch die indische Mittelschicht. Die Fahrt kostete nur 14 Dollar für etwa 1.400 Kilometer, Indien war ein sehr günstiges Reiseland und in der dritten Klasse wäre alles noch einmal um die Hälfte billiger gewesen, doch war mir das dort nicht ganz geheuer. Die anderen Passagiere im Abteil, umsorgten mich mit einer aus Südamerika unbekannten Nettigkeit und liehen mir über Nacht sogar eine Decke aufgrund der im Abteil vorherrschenden Kälte. Mich wunderte es, dass ich noch immer keinen Durchfall bekommen hatte, obwohl ich inzwischen regelmäßig den feuerscharfen Kartoffeleintopf im Fladenbrot aß, den ich direkt von den Straßenverkäufern am Bahnhof kaufte, wo es mit der Hygiene nicht weit her gewesen sein konnte. In Bombay angekommen, besuchte ich die üblichen Touristenorte, darunter das berühmte Gateway of India, das aus der Zeit der britischen Besatzung stammt. Indien hatte sich vom Kolonialismus gelöst, soviel war klar, denn Bombay hieß jetzt Mumbai und auch die alten englischen Straßennamen wurden fleißig umbenannt, was es sehr erschwerte von einem zum anderen Ort zu gelangen, schließlich musste man jetzt immer die alten und die neuen Straßennamen zugleich kennen und mehrfach schon war ich an einem anderen Ort herausgekommen als geplant. Die Stadt gefiel mir nicht besonders, war sie doch ziemlich verdreckt und von Abgasen verpestet. Auch wunderte ich mich über die Gepflogenheiten der Inder, die offen am Straßenrand, ja sogar in der Unterführung der U-Bahn urinierten. Alles mischte sich mit den Abgasen und dem Müll am Straßenrand zu einem süßlichen Luftgestank, der nicht nach meinem Geschmack war. Für Heiterkeit hatte hier einzig meine Hantel an einem Abend im Hotel gesorgt, welche von den Angestellten zunächst mit ungläubigem Staunen und schließlich mit großem Gelächter begutachtet geworden war.

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Am Gateway of India

Es hielt mich nicht viel in der Stadt und kaum drei Tage später machte ich mich auch schon wieder auf, um nach Goa weiter zu reisen. Erneut eine lange Zugfahrt die zu bewältigen war, doch wollte ich nach nunmehr zwei Wochen in Indien endlich ans Meer und in den Genuss ausgelassener Partys kommen. Mein Tagesetat von umgerechnet zwanzig US-Dollar war für Indien so üppig, dass ich bereits viel Geld gespart hatte, was nun in Goa ausgegeben werden sollte. Nach ungefähr einem Tag war ich in Panjim, der Hauptstadt der ehemaligen portugiesischen Enklave angekommen. Hatte ich seit Ewigkeiten keinen  Alkohol mehr gesehen, hier bei den Christen gab es Schnapsläden die nichts anderes verkauften. Ich fand eine sehr gute Unterkunft im nahe gelegenen Calangute direkt am nördlichen Strand, der sich vom Gefängnis bis hin zu der Irrenanstalt erstreckte. Die Partyhochburg zollte ihr Tribut, beide Einrichtungen waren für die Drogenkonsumenten vorgesehen. Glaubte man den Schildern am Strand, so wurden diejenigen für zehn Jahre ins Gefängnis gebracht, die mit etwas illegalem erwischt wurden und zwar ohne Gerichtsverhandlung. In die Irrenanstalt hingegen warf man die anderen, deren geistiger Zustand einen Gefängnisaufenthalt nicht mehr erlaubte. Irgendwie kam mir ganz Goa so vor, als wäre es ein Ort voller Verrückter. Allen voran der Busfahrer, der sich jeden Morgen am Ende der Hauptstraße mit einer gewaltigen Staubwolke ankündigte und dann mit hoher Geschwindigkeit rumpelnd durch die enge und von Mauern begrenzte Gasse herunter raste, so dass sich die spielenden Kinder gerade noch in Sicherheit bringen konnten. Mehrfach jährlich, erzählte man mir, würde auch eines der Kinder überfahren werden. Dann musste der Busfahrer mit noch größerer Geschwindigkeit das Weite suchen, wollte er von einem Mob nicht am nächsten Baum aufgeknüpft werden. Daneben gab es die Kashmiris, die in ihren Läden Souvenirs verkauften und den ganzen Tag aus der Haschpfeife pafften. Auch der Friseur, der einem nach getaner Arbeit heftig auf dem Kopf herumschlug, war meiner Beobachtung zu folge nicht ganz bei Trost. Mir hämmerte er schier den Schädel ein, so dass ich wutentbrannt nach außen lief und ihm dreißig Rupien in den Laden warf. Er meinte mit seiner Hauerei, die er als Massagedienstleistung bezeichnete, etwas mehr Geld verlangen zu können. Die ganze Sache wurde abgerundet vom Apotheker, der allerlei Aufputschendes  unter der Hand verkaufte.

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Strand von Calangute

Der Panzer in Calangute gehört der Drogenpolizei aus Bombay, teilte man mir mit. Die Polizisten hier waren mit allen Wassern gewaschen, ihr einziges Ziel war es, Bestechungsgelder einzutreiben. Das war auch notwendig, mussten sie doch selbst in Höhe der Summe eines Jahresgehalt Bestechung an ihre Vorgesetzten zahlen, um nach Goa versetzt zu werden. Dementsprechend hatte das mit Motorrollern bestückte Partyvolk auch Angst von den Full-Moon-Partys in Vagator zurück nach Calangute zu fahren. Mehrfach war ihnen schon in dem versandeten Palmenwaldgebiet zwischen den beiden Ortschaften ein Knüppel in die Speichen gesteckt und der Zündschlüssel gezogen geworden, den sie nur durch Bezahlung einer bestimmte Summe an Geld wieder von den Polizisten auslösen konnten. Doch nicht jeder musste sich fürchten. Ein dicker Hüne aus England zum Beispiel brauchte nur laut „Get out of my way“ zu brüllen und schon ließen die Polizisten von ihm ab. Mehrfach hatte er bereits die uniformierten Ganoven zusammengeschlagen, die gegen seine geballte Kraft mit ihren Schlagstöcken nur wenig ausrichten konnten. Es gefiel mir in Goa, war ich nicht am Strand, so befand ich mich meistens in einem nahe gelegenen Restaurant mit Meerblick einige Meter neben meinem Wohnort und aß feuerscharf gewürzten Reis. Am Wochenende kamen meistens Männergruppen aus Hyderabad angereist, deren einziger Aufenthaltszweck der Konsum von Alkohol war, den man wie bereits erwähnt (Travel 07/1) in der dortigen Gegend verboten hatte. Ich musste darüber lachen, denn die Inder hier machten mir nicht den Eindruck, am Hungertuch zu nagen, wie man es in den Medien in Deutschland immer vor Augen geführt bekam. Nein, es gab in der Apotheke sogar kleine Pillen, die in geringer Dosis als Schlankmacher wirkten, da sie dem Konsumenten auf Dauer den Appetit verdarben. Von ihnen hatte auch das Partyvolk schon gehört und es war allgemein bekannt, das die Schlankmacher auch als Muntermacher wirkten und in größerer Dosis, so etwa 20 Pillen auf einen Schlag, die Wirkung von Amphetaminen entfalten konnten.

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Mein Haus in Goa

Ich pendelte in den folgenden Tagen unentwegt zwischen Vagator und Calangute hin und her. Beide Ortschaften waren über einen wunderschönen Strand verbunden, der aufgrund einer felsigen Kuppe dazwischen durchgehend nur Tags begangen werden konnte. Den Weg zurück von den Partys in Vagator musste man meistens umständlich zu Fuß begehen oder waghalsig bei einer fremden Person auf dem Roller mitfahren. Jede der Partys war ein Abenteuer für sich und man lernte unentwegt neue Menschen kennen. Sind wir an einem Steilhang, fragte ich mich eines Nachts, als das Gelände bei lauter Musik immer abschüssiger wurde? Ich war ziemlich orientierungslos, wanderte jedoch gut gelaunt die gesamte Nacht hindurch zwischen den einzelnen mit unterschiedlichen Stoffen, Farben und Lichtern ausgestatteten Teilbereichen einer Goa-Party herum. Einmal kam es mir so vor, als wären wir mitten im Wald, ein anderes Mal dachte ich, ich stünde direkt an einer Klippe. Erst als die ersten Sonnenstrahlen den Tag erhellten, wurde langsam klar, dass sich die Veranstaltung in einem Wald direkt an einem Felsenhang befand. Von hier aus konnte man Bestens über die Weiten des Meeres blicken, in dem sich ausgelassen tanzende, nackte junge Damen tummelten. Meine Zeit war immer etwa so gegen zehn Uhr morgens gekommen, als mich die Lust an den Feierlichkeiten verließ. So spät am Morgen sah es dann meist schon sehr übel auf dem Partygelände aus und es gab viele komisch umherschauenden Gestalten. Die Polizei war sehr wohl dazu bereit, die Veranstaltungen auch zu stürmen und auseinander zu schlagen, hatten die Veranstalter zuvor nicht eine entsprechende Summe an Schweigegeld bezahlt. Trat solch ein Fall ein, gab es noch Stunden später verängstigte Personen auf dem Partygelände, die unter völligem Zeitverlust leidend sich hinter den Bäumen und Büschen vor der Polizei versteckten, bis sie von Badegästen hervorgeholt und auf den Weg nach Hause geschickt wurden.

Reiseberichte:

Travel Report 7/1: Nach Süden statt nach Norden
Travel Report 7/2: Zwischen Teppich- und Peitschenhändlern
Travel Report 7/3: Zwischen Panzern und Party
Travel Report 7/4: Zwischen Tempeln und Palästen
Travel Report 7/5: Entkräftet

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Travel Report 07/2: Zwischen Teppich- und Peitschenhändlern

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Nahe des Hotels

1997, Agra: Ich schlenderte gelangweilt und genervt die Straße hoch und wurde noch immer von dem Peitschenhändler verfolgt, der mir sein nutzloses Produkt nun schon seit mehr als einer viertel Stunde angeboten hatte. Ein kleiner schwarzer, zerzauster Mann mit verrissener Kleidung und einer Turban ähnlichen Kopfbedeckung war es, der mich hier belästigte. Ursprünglich sollte die Peitsche vierhundert Rupien kosten, inzwischen waren nur noch vierzig, ohne dass ich ein einziges positives Wort über einen möglichen Erwerb des Gegenstandes von mir gegeben hatte. Gut einen Kilometer waren wir inzwischen vom Taj Mahal in Richtung Innenstadt gelaufen, wobei die Peitsche ungefähr alle 100 Meter um einen gewissen Betrag günstiger geworden war. Meine Beteuerungen, nichts mit seinem Angebot anfangen zu können, überhörte er schlichtweg, ja er ignorierte mich. Das Taj Mahal und die umliegenden Paläste waren wirklich schön gewesen, hätten sich dort nicht die vielen Händler herumgetrieben, die in einer ähnlichen Produktkategorie agierten wie mein Schatten, dabei jedoch weitaus weniger Ausdauer aufbrachten. Ich war am Vortag irgendwann abends in Agra angekommen. Der Zug aus Delhi war insgesamt vier Stunden verspätet gewesen, da ich nur zwei davon antizipiert hatte, bin ich noch weitere zwei Stunden an Delhi Railway Station herum gesessen. Dort hatte mir ein Passant eine viertel Stunde lang auf den Kopf gestarrt, während ich mir die Zeit mit einem Buch vertreiben wollte. Er ging erst, als ich ihm einige Sekunden ins Gesicht blickte. Ich wunderte mich von da an, was an meinem Kopf so interessant sein sollte, dass man ihn aus einer Distanz von etwa einem halben Meter eine viertel Stunden lang begaffen konnte. Sehr aufdringlich schienen mir die Leute hier zu sein und nun platzte mir der Kragen mit meinem Peitschenhändler. Ich fauchte ihn unfreundlich an, er solle sich jetzt endlich fort schleichen. Rechts und links schüttelte er mit dem Kopf, eine nicht deutbare Bewegung. „Fort“, „fort“ – rechts, links, „fort“, „fort“ – rechts, links. Völlig entnervt gab ich auf und überreichte ihm zwanzig Rupien flehend mit der Bitte verbunden, mich jetzt in Ruhe zu lassen. Die Peitsche durfte er behalten und ich war froh, als ich ihn entschwinden sah, obwohl ich strategisch gedacht, natürlich einen Fehler gemacht hatte.

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Am Taj Mahal

In Agra war es nicht einfach, ohne Umweg mit einer Rikscha von einem zum anderen Ort zu gelangen. Die Fahrer hatten die Angewohnheit, die Fahrgäste an den Orten herauszulassen, an denen sie eine Provision kassieren konnten. Immer war es ein guter Onkel oder ein lieber Verwandter, den man noch kurz besuchen sollte und der zwischen Ausgangsort und Zielort dazwischen geschaltet wurde. Schon mehrfach hatte ich mich weigern müssen, auf einem der Zwischenstopps auszusteigen. Auch dieses Mal dauerte es zwei Stationen ehe ich im Hotel ankam, in dem ich inzwischen auf dem Balkon saß und in Gedanken versunken mir die letzten Sonnenstrahlen über der im Dunst verschleierten Stadt anschaute. Da trat ein stämmig gebauter, rauer Motorradfahrer aus England mit einer Flasche Schnaps in der Hand aus dem Nachbarzimmer auf den Balkon heraus. Er setzte sich und bot auch mir einen Drink an, den ich dankend entgegennahm. Mit Hochachtung folgte ich seinen Ausführungen, wie er von London bis nach Agra hergefahren war, wie er bei netten Menschen im Iran übernachtet hatte, wie er von der Polizei durch Pakistan eskortiert wurde und wie er gedachte, nach Indonesien weiter zu fahren. Wir saßen da und tranken noch eine Weile. Als er mir schließlich erzählte, das Getränk auf einem lokalen Markt gekauft zu haben, wurde mir unwohl, wusste ich doch, dass schon viele Menschen hier in Indien von dem selbstgebrannten Schnaps blind geworden waren. In der Region um Hyderabad herum war es der weiblichen Wählerschaft sogar gelungen, ein komplettes Alkoholverbot politisch durchzusetzen, da zu viele Männer sich dem Alkohol gewidmet hatten und viele davon erblindeten. Unbegründete Sorgen, wie sich bald herausstellen sollte, jedenfalls konnte ich am kommenden Tag so gut sehen wie je zuvor und sah auch erstaunliches, nämlich einen Schlangenbändiger, der drei Kobras gleichzeitig zum Tanzen brachte.

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Bei dem Teppichhänlder

Am Tag vor meiner Abreise aus Agra saß ich erneut auf einer Fahrradrikscha und hatte dem Fahrer den doppelten Preis geboten, wenn er mich direkt vom Zentrum der Stadt zu meinem Hotel bringen würde. Doch selbst das hat nichts genutzt und voller Zorn fand ich mich schon wieder, es muss bereits das dritte oder vierte Mal gewesen sein, bei einem Teppichhändler vor. Sogleich war ich mit diesem in einem Streitgespräch. Ja, der Teppich konnte für umgerechnet siebenhundert Dollar schon günstig sein, sofern er echt war. Aber, argumentierte ich, könnte ich das gar nicht prüfen. Darüber hinaus wäre ich noch weitere zwei Monate auf Reisen, könnte einen Teppich also gar nicht gebrauchen. Auf jeden meiner Einwände wusste der Händler Rat und Abhilfe. So meinte er, dass er einen Experten holen könnte, der anhand eines Zertifikats die Echtheit des Teppichs bestätigen würde und gegen Barzahlung wäre es möglich, den Teppich sogleich verschiffen zu lassen. Ich wurde noch ungehaltener über diese Unverfrorenheit. Nie, erwiderte ich, wäre ich bereit Bargeld auszuhändigen und rannte hinaus zur Rikscha. Los, schnaubte ich den Fahrer an, über den ich mich sehr ärgerte. Nach einigen Minuten drehte er sich zu mir um und entschuldigte sich mit dem Hinweis, das Geld für seine Familie zu benötigen. Ich hatte mich inzwischen wieder besänftigt und sah wie spindeldürr er war und dass er womöglich jeden Tag mehr Kalorien verbrauchen würde, als er zu sich nahm. Ich versicherte daraufhin, dass alles nicht so schlimm sei, wenn er mich jetzt wirklich direkt zum Hotel bringen würde. Als wir keine zehn Minuten später mitten in der Stadt einen Hügel hinauf fahren mussten, wurde er von seinen Kräften im Stich gelassen. Zum entsetzen der Passanten am Straßenrand stieg ich ab und half, die Rikscha hinauf zu schieben. Mit geballten Fäusten standen die Turbanträger am Straßenrand, ich hatte in dem Kastenwesen Indiens mit meiner Hilfsaktion wohl einen gesellschaftlichen Ehrenkodex verletzt, der zwar meiner Kultur fern war, einem Verständigen der indischen Kultur jedoch im innersten verletzend vorkommen musste.

Reiseberichte:

Travel Report 7/1: Nach Süden statt nach Norden
Travel Report 7/2: Zwischen Teppich- und Peitschenhändlern
Travel Report 7/3: Zwischen Panzern und Party
Travel Report 7/4: Zwischen Tempeln und Palästen
Travel Report 7/5: Entkräftet

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Travel Report 07/1: Nach Süden statt nach Norden

1997, Delhi: Von den Südamerikareisen war ich schon einiges gewohnt, einen vergleichbar heruntergekommenen Bus wie vor dem Flughafen in Delhi hatte ich aber noch nie gesehen. Verbeult, verrostet, technisch in katastrophalem Zustand, ohne Windschutzscheibe und vollgestopft mit dunklen Leuten. Ich quetschte mich auf den letzten Platz vorne direkt neben dem Busfahrer und war auf der Fahrt in Richtung New Delhi Railway-Station sehr verwundert über die vielen Gestalten, die am Straßenrand halb nackt da saßen und in den Tag hinein lebten. Dem Kontrolleur hatte ich mitgeteilt, an den Main Bazar fahren zu wollen und ihn gebeten, mich dort heraus zu lassen. Er meinte, alle Hotels und Unterkünfte am Bazar wären teuer, schmutzig, außerdem ausgebucht und er hätte einen besseren Tipp für ein hervorragendes Hotel direkt im Zentrum. Mir kam das nicht geheuer vor und ich machte jede Wette, er wollte eine Provision kassieren. In der Stadt angekommen, achtete ich penibel darauf, den Ausstieg aus dem Bus nicht zu verpassen. Als mich der Kontrolleur mit seinen Beteuerungen erneut in die Irre leiten wollte, sprang ich auf die Straße und provozierte dadurch ein paar zornige Worte, die mir von ihm hinterher geschleudert wurden. Ich hatte Glück, die Railway Station war gleich um die Ecke. Als ich sie durch einen Hintereingang betrat, verlor ich kurz die Orientierung, atmete erst einmal durch, ging dann langsam weiter. Ich hatte mit einem Bündel von Kleidern, das fünf Kilogramm wog, prinzipiell mein bisher leichtestes Gepäck dabei, das ich je zuvor auf Reisen mitgenommen hatte, wäre da nicht noch die Hantel mit einem Gewicht von zwanzig Kilogramm gewesen, die wie ein Mühlstein quer in meinem Rucksack lag. Schnell durchquerte ich die düsteren Hallen und fand bald den Haupteingang und somit den Weg nach draußen zu dem Bazar. Vor dem Bahnhof überwältigte mich der Anblick der Menge an Menschen, die sich einem Ameisenhaufen gleich unter mir durch die Straßen  in regem Treiben hin und her bewegten.

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Auf dem Currymarkt

Vom Bahnhof aus war die Main Bazar Road einfach auszumachen, schnell lief ich sie hinauf und fand nach einigen erfolglosen Anläufen in halb zusammengefallenen Pensionen schließlich eine passende Unterkunft. Mein Plan war es, insgesamt acht Wochen lang den indischen Subkontinent und seine Ausläufer zu bereisen, wobei der Schwerpunkt das nördlich gelegene Nepal bilden sollte. Auf der Straße hatte mich bereits ein Reisevermittler angesprochen und mir als Empfehlung Kashmir anstelle von Nepal angedient, ich lehnte jedoch ab, da ich die politische Lage in der umkämpften Region als zu instabil einschätzte. Als ich später das Hotel verließ und ein Restaurant aufsuchen wollte, stand er schon wieder da, als hätte er die ganze Zeit gewartet und beschwor mich mit weiteren Beteuerungen über die Vorzüge und die Schönheiten Kashmirs. Ihn loszuwerden war ein äußerst anstrengendes Unterfangen und es gelang mir erst, als ich das Restaurant betrat. Unvertraut mit der indischen Küche bestellte ich mir ein Tandoori Chicken mit Reis und war über die ungeheure Schärfe des Gerichtes verwundert ohne zu ahnen, dass es sich bei dem Feuerhühnchen noch um eine vergleichsweise milde Mahlzeit handeln sollte. Zurück auf der Straße wartete erneut der Reisevermittler und er schaffte es tatsächlich, mich in sein Büro zu locken, um mir anhand von einem Bildband die Möglichkeiten einer Reise  Kashmir schmackhaft zu machen. Ich lehnte erneut ab, buchte aber eine Delhi Sightseeing Rundfahrt für den folgenden Tag. Den Rest des Tages vertrieb ich mir in den engen Gassen des Bazars und trat dabei aus Spaß eine Rikschafahrt durch das Labyrinth der Händler und Verkaufsstände an. Der alte Fahrer kämpfte sich ab, so ein Engagement musste belohnt werden, dachte ich als wir etwa die Hälfte der vereinbarten Dauer von einer halben Stunde in den schmalen, dunklen und dicht bevölkerten Gassen zurückgelegt hatten. Dann fuhr mir plötzlich in den Kopf, dass ich den Preis nicht vorab ausgehandelt hatte und jetzt wohl über das Ohr gehauen werden würde. Zurück an der Delhi Railway-Station verlangte der alte Fahrer umgerechnet zehn US-Dollar für seine Dienstleistung. Ich hatte viele Sympathien für den Greis und war bereit das Geld zu bezahlen, allerdings schämte ich mich auch dafür, gleich am ersten Tag wie Anfänger über den Tisch gezogen worden zu sein und versuchte den Vorgang so diskret wie möglich abzuwickeln. Doch als ich aufschaute, starrten mich die Passanten mit erschrockener Miene an. Wahrscheinlich hatte ich mehr bezahlt, als ein Rikschafahrer in einer ganzen Woche üblicherweise verdiente.

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Mit der Riksha

Schon in der Nacht gerieten meine Nepal Pläne gehörig ins Wanken. Zwar verfügte ich über eine dicke Decke im Bett des fensterlosen Zimmers meines Hotels, doch lag ich auf gespannten Bastschnüren. Aufgrund der fehlenden Matratze  schlich sich die Kälte von unten heran, ich musste in voller Kleidung schlafen und fror trotzdem noch. Angemessene Ausrüstung für Nepal habe ich also nicht dabei, überlegte ich mir, meine zwanzig Kilo schwere Hantel konnte mir bei dem Problem ja schwerlich weiterhelfen. Ob ich bei dieser Kälte in den viel höher gelegenen Regionen des Nachbarlands tatsächlich bestehen konnte, hielt ich angesichts der nächtlichen Erfahrung für unwahrscheinlich. Es war Mitte Januar, tagsüber bei Sonnenschein hatte es fünfundzwanzig Grad, aber des Nachts kam die Temperatur dem Gefrierpunkt nahe. Als ich am frühen Morgen des folgenden Tages aufgrund dieser Erkenntnis etwas betrübt die Straße betrat, herrschte eine ungewohnte Atmosphäre vor. Das Rinnsal der Verwesung, wie ich den kleinen offenen Abwasserkanal nannte, der überall am Straßenrand zu finden war, dampfte fröhlich vor sich hin. Die Luft war von faulen Gerüchen geschwängert und es war noch immer sehr kühl. Erst als die ersten Sonnenstrahlen auf die Straße leuchteten hellte sich auch meine Gefühlslage auf und ein schöner Tag stand bevor. Ich trat meine Sightseeing Tour zu den Sehenswürdigkeiten der Stadt an, ein Höhepunkt und gleichzeitig auch ein Tiefpunkt stellte das Red Fort dar. Faszinierend die Architektur und abstoßend die Bettler. Einem kleinen Mädchen, das meiner Einschätzung nach nicht älter als fünf Jahre gewesen sein konnte und mit einem Baby auf dem Arm da stand, kam meine Alimentation von einem Dollar in Rupien zu gering vor. Aggressiv ging mich das Bettelkind an und verlangte einen Nachschlag, dabei hatte ich schon den ersten Dollar ganz entgegen meiner Vorsätze ausgehändigt. Zur Schule gehen soll der kleine Teufel, dachte ich, denn ich war fester Überzeugung, dass die Unterstützung von bettelnden Kindern eine kontraproduktiv Auswirkung hat. Drei Jahre zuvor  in Kolumbien hatte ich Menschen gesehen, die von ihren Eltern nur zum Bettlerzweck verkrüppelt geworden waren, um aufgrund des Mitleid erregenden Zustandes zu höheren Einkünften zu kommen, solches Mitleidgeschäft war mir suspekt.

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Blick vom Red Fort

Zwei Tage später, die mir der Reiseagent mit seinem Kashmir Angebot beständig nervend auf den Fersen geblieben ist, schaute ich verwundert vom Portal der New Delhi Railway-Station auf die Szene, die sich unter mir darbot. Ein Motorradrikschafahrer hatte einen Hund überfahren und nun stand ein Halbkreis von Menschen um ihn herum, die böse auf ihn einschimpften, während er neben dem reglosen Geschöpf auf den Knien liegend um Abbitte flehte. Der Hinduismus hatte andere Regeln, die ein Europäer nur schwer verstehen konnte. Jedenfalls musste der Mann nun befürchten, in einem anderen Leben noch weiter die Kasten hinabzusteigen. Der Buddhismus, der im nördlich gelegenen Nepal praktiziert wurde, war da nicht so streng. Doch alle meine Pläne dort hin zu reisen, hatte ich inzwischen schweren Herzens zu Grabe getragen, anstelle dessen sollte es in den warmen Süden weiter gehen. Als nächstes Ziel war Agra angepeilt, um dort das Taj Mahal zu besichtigen. Einen kurzen Abstecher nach Varanasi, wo die Inder zur seelischen Beruhigung in den verdreckten Ganges steigen, hatte ich mir auch überlegt, aufgrund des damit einhergehenden Umwegs das Vorhaben jedoch wieder verworfen. Ich war nun seit vier Tagen in Indien und noch nicht ein einziges Mal ordentlich auf der Toilette gewesen. So etwas hatte ich noch nie erlebt, die Umstellung für den Magen aufgrund des scharfen Essens, das mir immer mehr zusagte, muss immens gewesen sein. Allerdings gab es trotz des bis dahin ausgefallenen Stuhlgangs keine negativen Auswirkungen auf mein Wohlbefinden. Vielleicht war der Grund auch im bisher ausgebliebenen Alkoholkonsum zu suchen, der mich vor Magenbeschwerden verschonte. Zwar war mir einmal ein englischer Pub ins Auge gefallen, sonst hatte ich aber noch kein Angebot von alkoholischen Getränken zur Kenntnis nehmen können. Ich war also fit für die Weiterreise und die Zeit des Aufbruchs war gekommen. Am nächsten Tag sollte der Zug offiziell gegen zehn Uhr morgens von der Railway-Station nach Agra abfahren. Ich nahm mir vor, so gegen zwölf Uhr dort zu sein, denn zwei Stunden Verspätung war laut meinen Informationen das Minimum, was man einkalkulieren musste.

Reiseberichte:

Travel Report 7/1: Nach Süden statt nach Norden
Travel Report 7/2: Zwischen Teppich- und Peitschenhändlern
Travel Report 7/3: Zwischen Panzern und Party
Travel Report 7/4: Zwischen Tempeln und Palästen
Travel Report 7/5: Entkräftet

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