Travel Report 4/1: Reise durch die Klimazonen

1995, Bolivien/Chile: Als sich der alte, halb zerfallene Bus langsam die Wüste südwestlich von La Paz hinauf quälte, hatte ich das Gefühl, etwas verpasst zu haben. Tatsächlich war ich am Tag zuvor vor der Luna Bar gestanden, wandte mich aber aufgrund der Erfahrungen mit der Polizei in Peru (Travel Report 3/2) ab und ging unverrichteter Dinge wieder in mein Hotel zurück. Jetzt, während große Kakteen an dem Bus vorbeizogen als wären sie die stummen Wächter einer ewigen Einöde und die Landschaft in dem Ambiente eines alten Western Films erleuchtete, stellte sich die Frage, ob ich ein Feigling gewesen war. Die Gedanken verflogen aber bald, als ich mich mit meinem Platznachbarn im Bus anfreundete, der unentwegt auf einem Streichholz nagte. Er war mit einer Gruppe von bildhübschen jungen Frauen unterwegs, die eine ähnliche Strecke wie ich zurückgelegt hatten und ebenfalls vom Maccu Piccu kamen, um zurück in ihr Heimatland zu reisen. Die meisten jungen chilenischen Männer trugen zu dieser Zeit einen Zopf, sofern sie eine gewisse modische Intelligenz besaßen und sahen mir dadurch zum Verwechseln ähnlich. Das war auch der Grund gewesen, weswegen ich am Maccu Piccu nicht den Eintrittspreis für Europäer bezahlen musste, sondern in die Gunst einer deutlichen Ermäßigung gekommen war, man hatte mich dort offenbar für einen chilenischen Staatsbürger gehalten. Nach einigen Stunden Fahrt, es ging wirklich sehr langsam voran und wir erreichten im Durchschnitt bei weitem nicht die üblichen fünfzig Kilometer Wegstrecke pro Stunde, veränderte sich die Landschaft zunehmend in ein flimmerndes Meer aus verschiedenen Brauntönen, das zeitweise von blauen Wasserlachen mit rosaroten Flamingos unterbrochen wurde. Die Altiplanos waren erreicht und hier oben lag auch die Grenze zwischen Bolivien und Chile.

Es sah aus, als wäre ein Strich mit dem Lineal gezogen geworden, als die staubige Piste Boliviens in die asphaltierte Straße Chiles überging. Noch vor dem Grenzübertritt legten wir eine Pause ein. Zeit, um eine Erfrischung in dem einzigen Laden hier oben im Niemandsland zu kaufen. Wir betraten eine aus Lehm und Ästen gebaute Hütte in der höchstens ein Dutzend verschiedener Waren angeboten wurden und eine steinalte Frau hinter der Verkaufstheke stand. Mein chilenischer Weggefährte bestellte jeweils eine Dose Cola für uns beide, was kein einfaches Unterfangen war, denn die alte Dame wusste nicht, um was es sich bei diesem Produkt handeln sollte. Erst als die Bestellung von „Coca Cola“ auf „rote Dose“ abgeändert wurde, erhielten wir unser Getränk. Obwohl die Frau mit Sicherheit eine Analphabetin war, verstand ich nicht, wie man bei dieser geringen Anzahl an Artikeln, die zum Verkauf angeboten wurden, den Produktnamen nicht kennen konnte. Auch mein Weggefährte stand nur hilflos lächelnd da und zuckte mit den Schultern.

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Atacama

Es dauerte noch drei Stunden, ehe wir Arica erreichten, eine Stadt die endlich wieder die Annehmlichkeiten vorweisen konnte, die wir aus Europa gewohnt waren. Cafes, gängige Fastfood Restaurants, ja sogar Zeitschriften aus Europa gab es hier, die mit einem Tag Zeitverzögerung erschienen, was es mir erlaubte, mich über die Geschehnisse in der heimischen Fußballliga zu informieren. Ich buchte zusammen mit meinem chilenischen Begleiter und dessen Freundinnen ein Zimmer in einem Hotel in der Nähe des Busbahnhofs, indem wir uns nach der anstrengenden Fahrt mit vorzüglichem chilenischem Rotwein in einer angenehmen, lauen Sommeratmosphäre belohnten. Zur Belustigung aller war ich zuvor entsetzt zur Rezeption gerannt, als ich die fehlende Decke und die ersatzweise schattenspendenden Schlingpflanzen bemerkte, die an Drähten entlang über dem Zimmer thronten. Mild hatte mir die Empfangsdame entgegen gelächelt und mir auf Lebenszeit freie Unterkunft angeboten, sollten meine Befürchtungen eintreten und es während unseres Aufenthalts zu regnen beginnen. Nachdem sich die Belustigung im Zimmer gelegt hatte versicherten mir die Chilenen, dass es hier gar nicht regnen könne.  Eine alte Frau klärte mich später darüber auf, dass sie seit ihrer Geburt in Arica wohnen würde, noch nie aber Regen gesehen hätte. Ich befand mich jetzt in der Atacama-Wüste, dem wohl trockensten Flecken auf dem Planeten von dem aus die Wissenschaftler mit riesigen Fernrohren in den Himmel schauen und in dem die ältesten Kindermumien aus dem Sand ragen und zu Schlamm verfallen.

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Im Tal

Zwei Tage später trennten sich die Wege von der Gruppe der Chilenen und mir, da ich nach Santiago de Chile aufbrach. Zunächst durchfuhr ich Stunden lang die Atacama-Wüste, ehe sich nach gut einem Tag die Landschaft langsam wandelte und das erste Grün aufblühte. Im weiteren Verlauf der Fahrt wurde die Umgebung immer fruchtbarer, bis ich im sogenannten „Valley“, im „Tal“ ankam, in dem die Trauben, die hier für den berühmten chilenischen Wein angebaut wurden, fast so groß wie Eier waren. Ich wäre mir hier vorgekommen wie zu Hause in Deutschland, hätte die Sonne nicht unentwegt geschienen und wären die Trauben nicht so groß gewesen. Es war schön im Tal, friedlich und ruhig, eine ganz und gar andere Atmosphäre als in den nördlichen Andenländern, vergleichbar mit Stellenbosch in Südafrika, aber das konnte ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen. Gut einen weiteren halben Tag später erreichte ich schließlich die Hauptstadt und erneut war ich erstaunt, denn ich hätte sie leicht mit Mailand oder Barcelona verwechseln können, hätte man mich mit verbundenen hier her gebracht und anschließend raten lassen, wo ich sei. Im Verhältnis zu den nördlichen Andenländern schien Chile aus meiner Perspektive ein weitaus entwickelteres Land gewesen zu sein, was mich verwunderte, hatte schließlich die Pinochet Diktatur erst einige Jahre zuvor geendet. Auch das Klima war jetzt sehr angenehm und reizvoll war die Tatsache, als Einwohner von Santiago jederzeit in knapp über einer Stunde rund um das Jahr entweder an den Strand in Valparaisos oder zum Skifahren auf das 3.700 Meter hohe Valle Nevado  fahren zu  können.

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Südchile

Prinzipiell wollte ich auf dieser Reise ja eigentlich nur bis Peru vorstoßen, doch ich hatte das Gefühl, es müsse immer weiter gehen. Es standen nun drei Optionen für die Weiterreise zur Auswahl. Zum einen konnte ich von Santiago aus mit einer organisierten Tour auf den höchsten Berg Südamerikas, den Aconcaqua steigen, der hinter der argentinischen Grenze mit knapp 7.000 Metern in die Höhe ragte. Als zweite Option kam ein Ausflug auf die Osterinseln in Frage und drittens die vollkommene Umrundung des Kontinents, indem ich nach Feuerland weiterreisen würde. Zeitlich wären mir alle drei Optionen offen gestanden, denn es war gleichgültig, ob ich in drei Monaten oder erst in einem halben Jahr wieder zurück nach Europa reisen würde. Allerdings hatte ich bereits deutlich mehr Geld ausgegeben, als ursprünglich geplant. Ich war hin- und hergerissen, was nun zu tun sei. Meine einzigen beiden potenziellen Ratgeber, ein reiseerfahrenes holländisches Pärchen im Nachbarzimmer meines Hotels, wollten nicht mehr mit mir reden, da ich mich zwei Tage zuvor angeblich über ihre Sprache lustig gemacht hatte, indem ich meinte, Holländisch würde für mich lustig klingen, wenn man „Bäume und Blumen“ als „Bomen en Bloemen“ ausspricht. Nach längerem Zaudern entschloss ich mich schließlich, den Weg nach Feuerland in Angriff zu nehmen und buchte ein Busticket nach Puerto Montt.

Reiseberichte:

Travel Report 3/1: In den Krieg
Travel Report 3/2: Kontrolle in Trujillo
Travel Report 3/3: Am Titicaca See
Travel Report 4/1: Durch die Klimazonen
Travel Report 4/2: Am Ende der Welt
Travel Report 4/3: Zu den Christen
Travel Report 5/1: Mode und Prostitution
Travel Report 5/2: Betrunken im Bus nach Belem
Travel Report 5/3: Am Amazonas
Travel Report 6/1: Durch den Urwald
Travel Report 6/2: In Gewahrsam

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