Travel Report 07/4: Zwischen Tempeln und Palästen

1997, Südindien: Der Aufenthalt in Goa hatte sich ziemlich negativ auf mein Reisebudget niedergeschlagen. Ich beschloss daher mich weiter nach Süden und ins Landesinnere zu begeben, um mich zunächst finanziell zu konsolidieren und später wieder nach Goa zurückzukehren. Teilweise hatte ich auf den Partys an einem Abend mehr Geld liegen lassen, als ich sonst in einer halben Woche verbrauchte. Ich nahm den Bus nach Hampi, wo es historische Stätten zu besichtigen gab. Aus dem Busfenster sah ich bei der Abfahrt, wie ein erwachsener Mann einen anderen erwachsenen Mann ohrfeigte, wobei die Beiden ihre Köpfe immer hin- und her schüttelten, andere Kulturen, andere Sitten. Neben mir saß ein alter Greis, der sofort nach Abfahrt des Busses mit seinem Kopf auf meiner Schulter einschlief. Mich störte das, doch wollte ich nicht unhöflich sein und ihn aufwecken. Daher hoffte ich, dass er aufgrund der Erschütterung durch die schlechte Straße irgendwann von selbst aufwachen würde. Nichts davon, fast die gesamte Fahrt von acht oder neun Stunden hüpfte sein Kopf wie ein Ping-Pong-Ball auf meiner Schulter herum, bei dem einen oder anderen etwas tieferen Schlagloch dürfe die Aufprallhöhe gut einen halben Meter betragen haben. Endlich angekommen, wunderte ich mich, ob nun meine Schulter oder sein Kopf mehr gelitten hatte, meine Schulter schmerzte auf jeden Fall ziemlich arg. Am folgenden Morgen stand ich an dem Busbahnhof und sah dort einen alten Mann schottischer Herkunft stehen, der mir des Öfteren schon in Goa über den Weg gelaufen war. Da wir an diesem Tag das selbe Ziel hatten und den berühmten Tempel von Hampi besichtigen wollten, identifizierten wir anhand einer Karte die Distanz bis dorthin, um  von dem Fahrer einer der Rikschas nicht über das Ohr gehauen zu werden. Als wir aufblickten hatte sich ein Doppelkreis von Menschen um uns herum gebildet, jede Bewegung unsererseits wurde mit einer Mischung aus Misstrauen und Neugierde beobachtet. Die Gaffer waren wieder da, so dass wir schnellstmöglich in eine der wartenden gelben Rikschas stiegen.

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Tempel von Hampi

Die Tempelanlage von Hampi war beeindruckend. Eine der letzten großen Hindureiche war in dem Unesco Weltkulturerbe im späten Mittelalter ansässig gewesen und dort wo jetzt die Affen auf den Mauern herumsprangen, residierten einst die Könige von Vijayanagar, die den gesamten südlichen Subkontinent Indiens unterworfen hatten. Auf dem Weg war mir ein kunterbunter Ganesh Tempel aufgefallen, der kitschig wie er war, überhaupt nicht zu den alten Tempeln und Palästen passte. Indien, ein Land der Gegensätze, dachte ich mir. Nachdem wir die Tempel besichtigt hatten, schlenderten wir noch eine Weile in der Gegend herum, bis wir an einem Dorf in der Nähe der Anlage ankamen und der alte Schotte eine Frisbeescheibe aus dem Rucksack herauszog. Wir warfen das Fluggerät einige Male hin und her, ehe die ersten Dorfbewohner sich am Seitenrand unseres Spielfelds formierten. Je länger wir dem Zeitvertreib nachgingen, desto mehr Leute erschienen. Verfehlte das Frisbee einmal sein Ziel, so waren die kleinen Jungen schnell dazu bereit, uns das Spielgerät zurück zu bringen. Nach etwa einer viertel Stunde war wohl bereits das gesamte Dorf anwesend. Frauen, Männer, Alte, Kinder, alle beobachteten uns und je nach Flugrichtung des Frisbees wendeten sich die Köpfe wie ein eingeübtes Manöver von Paradesoldaten hin und her. Flog die Scheibe einmal außer der Bahn, waren es nun die erwachsenen Männer, die sie uns zurückbringen wollten und es entstand jedes Mal ein handfester Streit zwischen den Buben und den Männern um dieses Privileg. Es wurde gezerrt und gezogen, bis einer die Scheibe ergattern und sie uns mit einem breiten Lächeln überreichen konnte. Überwältigt von so viel Aufmerksamkeit bedankten wir uns nach einiger Zeit und machten uns zurück nach Hampi auf.

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Palast von Mysore

In den folgenden Tagen fuhr ich über Bangalore nach Mysore weiter. Hier wohnte ich auf dem Dach eines recht billigen Hotels und hatte, wie schon in Südamerika und auch mehrfach auf dieser Reise, einen Gecko im Zimmer. War mir das kleine Tier zunächst nicht sehr willkommen gewesen, schätzte ich es inzwischen, da es die ganzen Moskitos von der Decke fraß und ich meine Ruhe vor den Fliegen hatte. Das Essen in Mysore war ausgezeichnet und je nachdem in welchem Restaurant ich war, schmeckte der Reis immer unterschiedlich. Jeder Koch schien seine selbst kreierte Variante des indischen Currys zu mischen, die immer Feuerscharf war und nichts mit dem gelben Pulver von zu Hause gemein hatte. In Mysore gab es verschiedene Dinge zu tun. Zunächst besuchte ich die Amba Vilas, einer der berühmtesten Paläste in Indien und Sitz der hiesigen Maharajas.  Später wanderte ich den Hausberg hinter der Stadt hinauf. Von hier oben sah ich, wie klein sie war, obwohl hier 700.000 Menschen wohnten. Das lag nach meinem Verständnis wohl daran, dass jedes Gebäude mit Menschen überfüllt war, die darinnen auf engstem Platz lebten. Ich schätze, die Stadt war lediglich so groß wie eine Stadt in Deutschland mit vielleicht 40.000 Einwohnern. In den kommenden Tagen besuchte ich die Sehenswürdigkeiten der Stadt. Neben den prachtvollen Palästen zählte der Aufstieg der 1.000 Stufen des Chamundi Hügels zu den Highlights, wo ich dem großen Nandi-Bullen begegnete, der als Wächter des Tores zu der Gottheit Shiva fungiert. Das steinerne Götzenbild war aufopferungsvoll mit Blumen geschmückt worden und sah bedeutend besser aus, als seine noch lebenden Gefährten, die heiligen Kühe auf den Straßen. Im Gegensatz zu unserer Kultur verfügten sie zwar über das Privileg, nicht auf dem Steakteller zu landen, doch waren sie oftmals in einem bemitleidenswerten Zustand. Teilweise fehlten ihnen ganze Körperteile, die durch Unfälle,  Krankheiten oder Infektionen abhanden gekommen waren.

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Der große Buddha

Nachdem ich mir in Mysore alles angesehen hatte, entschloss ich mich, Tagesausflüge in die Umgebung anzutreten. Zuerst fuhr ich mit dem Bus nach Shravanabelagola wo es einen überdimensionierten Buddha gab und wo die Jain wohnten, von denen Adolf Hitler womöglich sein Hakenkreuz entlehnt hatte. Der Bus donnerte auf der gewölbten Straße hinunter und wich nur hier und dort einem Lastkraftwagen aus. Es galt das Recht des Stärkeren und der Stärkere fuhr immer auf der Mitte der Straße, vermutlich um sein Reifenprofil zu schonen. Die kleineren Transporter mussten uns ausweichen, die Autos wichen den kleineren Transportern, Lastkraftwagen und den Bussen aus, die Motorradrikschas den Autos, die Motorräder den Motorradrikschas, die Fahrradrikschas den Motorrädern, die Mopeds den Fahrradrikschas, die Fußgänger allen übrigen und die Eselskarren befanden sich irgendwo zwischen den Motorradrikschas und den Autos. Als eines der sieben Wunder Indiens konnte man schon einiges erwarten, doch der Buddha in Shravanabelagola war noch weitaus größer, als ich mir ausgemalt hatte und er befand sich zudem in Mitten einer riesigen Anlage von unterschiedlichen Tempeln, Statuen und künstlichen Seen. Großartig, dachte ich, als ich die gut zwanzig Meter hohe weiße Statue sah. Die Inder hatten es sich allerdings nicht verkneifen können, dem Steinbild ein vorne herunter baumelndes Geschlechtsteil zu verpassen, so dass nicht wirklich die religiös zurückhaltende, feierliche Stimmung aufkam, die man sich an solch einem Ort wünschen konnte. Hier und dort sah ich auch einen Jain, der mit Mundschutz vorsichtig über die Steine lief, um keine Fliegen einzuatmen und kein Gras zusammen zutreten.

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In Karnataka

Der zweite nennenswerte Tagesausflug sollte in den Bandipur Nationalpark führen, wo ich einen Tiger sehen wollte. Früh am Morgen machte ich mich auf und erreichte die Ranger Station so gegen zehn Uhr. Ich hatte keine Ahnung, wie das alles von Statten gehen sollte, doch man konnte angeblich auf einer geführten Tour mit Elefanten in den Park ausreiten. Einer der Ranger, ein dunkelhäutiger Mann mit weißen Haaren klärte mich auf, die Touren würden am Nachmittag starten und gut drei Stunden dauern. Oftmals wären sie überfüllt, doch könnte ich ihm bereits jetzt das Geld aushändigen, dann wäre ich später sicher dabei. Ich vertrieb mir die Zeit unter einem Baum liegend und wartete und wartete. Gegen ein Uhr bekam ich Gesellschaft von einer Gruppe von Indern, die dem Anschein nach ebenfalls in dem Park arbeiteten, wohl aber nicht  den Status eines Rangers begleiten durften. Gut eine Stunde später verschwanden sie wieder und ich war erneut am Warten. Wenn es hier so viele Leute gibt, die eine Elefantentour mitmachen wollten, so müsste doch bald ein Tourist hier auftauchen, dachte ich. Gegen fünfzehn Uhr fragte ich in der Ranger Station nach dem Trip. Heute wäre kein Elefantenritt geplant, wurde mir mitgeteilt, worauf ich mich auf die Straße vor der Station begab und kurz überlegte. Bin ich dem Ranger am Morgen auf den Leim gegangen? Ich konnte es nicht fassen. Schnell eilte ich in die Station zurück, um die Männer dort zur Rede zu stellen. Schnell meinte ich auch schon, den Übeltäter erkannt zu haben und bezichtigte ihn, mir Geld ohne eine Gegenleistung abgenommen zu haben. Da blickte ich nach links, nein, dachte ich, der war es doch. Ja, der muss es gewesen sein, da war ich mir sicher und lenkte meine Aufmerksamkeit auf einen zweiten Ranger, der ebenfalls weiße Haare hatte. Fünf Minuten später saßen wir an einem Tisch um das Problem zu klären, denn ich war außer mir. Als ich nach einer Zeitlang sinnentleerten Diskutierens merkte, dass alles nichts half, weil ich die dunklen Gesichter unter den weißen Haaren nicht auseinander halten konnte, bekam ich einen Wutanfall und rannte wild fluchend von der Station auf die Straße. Wie von Himmels Hand gesendet rauschte gerade der Bus an, der eigentlich nur unregelmäßig alle paar Stunden kommen sollte und den ich sofort herunter winkte, um mich mit bösen Gesten und schlimmen Worten von den Gaunern zu verabschieden. Es war mir klar, dass ich  meine letzte Hoffnung, in Indien neben den Tempeln, Götter und Slums auch etwas Natur zu sehen abrupt zu Grabe tragen konnte.

Reiseberichte:

Travel Report 7/1: Nach Süden statt nach Norden
Travel Report 7/2: Zwischen Teppich- und Peitschenhändlern
Travel Report 7/3: Zwischen Panzern und Party
Travel Report 7/4: Zwischen Tempeln und Palästen
Travel Report 7/5: Entkräftet

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Travel Report 07/3: Zwischen Panzern und Party

1997, Goa: Bis nach Bombay war es eine weite Strecke, die ich aus Agra kommend über Nacht im Zug zurücklegen musste. Freilich war die Bahn erneut mehrere Stunden verspätet gewesen und ich hatte eine halbe Ewigkeit am Bahnhof warten müssen. Im Zug war ich in einem Schlafabteil der zweiten Klasse im obersten der drei Betten untergebracht, in dieser Wagon-Kategorie befand sich auch die indische Mittelschicht. Die Fahrt kostete nur 14 Dollar für etwa 1.400 Kilometer, Indien war ein sehr günstiges Reiseland und in der dritten Klasse wäre alles noch einmal um die Hälfte billiger gewesen, doch war mir das dort nicht ganz geheuer. Die anderen Passagiere im Abteil, umsorgten mich mit einer aus Südamerika unbekannten Nettigkeit und liehen mir über Nacht sogar eine Decke aufgrund der im Abteil vorherrschenden Kälte. Mich wunderte es, dass ich noch immer keinen Durchfall bekommen hatte, obwohl ich inzwischen regelmäßig den feuerscharfen Kartoffeleintopf im Fladenbrot aß, den ich direkt von den Straßenverkäufern am Bahnhof kaufte, wo es mit der Hygiene nicht weit her gewesen sein konnte. In Bombay angekommen, besuchte ich die üblichen Touristenorte, darunter das berühmte Gateway of India, das aus der Zeit der britischen Besatzung stammt. Indien hatte sich vom Kolonialismus gelöst, soviel war klar, denn Bombay hieß jetzt Mumbai und auch die alten englischen Straßennamen wurden fleißig umbenannt, was es sehr erschwerte von einem zum anderen Ort zu gelangen, schließlich musste man jetzt immer die alten und die neuen Straßennamen zugleich kennen und mehrfach schon war ich an einem anderen Ort herausgekommen als geplant. Die Stadt gefiel mir nicht besonders, war sie doch ziemlich verdreckt und von Abgasen verpestet. Auch wunderte ich mich über die Gepflogenheiten der Inder, die offen am Straßenrand, ja sogar in der Unterführung der U-Bahn urinierten. Alles mischte sich mit den Abgasen und dem Müll am Straßenrand zu einem süßlichen Luftgestank, der nicht nach meinem Geschmack war. Für Heiterkeit hatte hier einzig meine Hantel an einem Abend im Hotel gesorgt, welche von den Angestellten zunächst mit ungläubigem Staunen und schließlich mit großem Gelächter begutachtet geworden war.

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Am Gateway of India

Es hielt mich nicht viel in der Stadt und kaum drei Tage später machte ich mich auch schon wieder auf, um nach Goa weiter zu reisen. Erneut eine lange Zugfahrt die zu bewältigen war, doch wollte ich nach nunmehr zwei Wochen in Indien endlich ans Meer und in den Genuss ausgelassener Partys kommen. Mein Tagesetat von umgerechnet zwanzig US-Dollar war für Indien so üppig, dass ich bereits viel Geld gespart hatte, was nun in Goa ausgegeben werden sollte. Nach ungefähr einem Tag war ich in Panjim, der Hauptstadt der ehemaligen portugiesischen Enklave angekommen. Hatte ich seit Ewigkeiten keinen  Alkohol mehr gesehen, hier bei den Christen gab es Schnapsläden die nichts anderes verkauften. Ich fand eine sehr gute Unterkunft im nahe gelegenen Calangute direkt am nördlichen Strand, der sich vom Gefängnis bis hin zu der Irrenanstalt erstreckte. Die Partyhochburg zollte ihr Tribut, beide Einrichtungen waren für die Drogenkonsumenten vorgesehen. Glaubte man den Schildern am Strand, so wurden diejenigen für zehn Jahre ins Gefängnis gebracht, die mit etwas illegalem erwischt wurden und zwar ohne Gerichtsverhandlung. In die Irrenanstalt hingegen warf man die anderen, deren geistiger Zustand einen Gefängnisaufenthalt nicht mehr erlaubte. Irgendwie kam mir ganz Goa so vor, als wäre es ein Ort voller Verrückter. Allen voran der Busfahrer, der sich jeden Morgen am Ende der Hauptstraße mit einer gewaltigen Staubwolke ankündigte und dann mit hoher Geschwindigkeit rumpelnd durch die enge und von Mauern begrenzte Gasse herunter raste, so dass sich die spielenden Kinder gerade noch in Sicherheit bringen konnten. Mehrfach jährlich, erzählte man mir, würde auch eines der Kinder überfahren werden. Dann musste der Busfahrer mit noch größerer Geschwindigkeit das Weite suchen, wollte er von einem Mob nicht am nächsten Baum aufgeknüpft werden. Daneben gab es die Kashmiris, die in ihren Läden Souvenirs verkauften und den ganzen Tag aus der Haschpfeife pafften. Auch der Friseur, der einem nach getaner Arbeit heftig auf dem Kopf herumschlug, war meiner Beobachtung zu folge nicht ganz bei Trost. Mir hämmerte er schier den Schädel ein, so dass ich wutentbrannt nach außen lief und ihm dreißig Rupien in den Laden warf. Er meinte mit seiner Hauerei, die er als Massagedienstleistung bezeichnete, etwas mehr Geld verlangen zu können. Die ganze Sache wurde abgerundet vom Apotheker, der allerlei Aufputschendes  unter der Hand verkaufte.

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Strand von Calangute

Der Panzer in Calangute gehört der Drogenpolizei aus Bombay, teilte man mir mit. Die Polizisten hier waren mit allen Wassern gewaschen, ihr einziges Ziel war es, Bestechungsgelder einzutreiben. Das war auch notwendig, mussten sie doch selbst in Höhe der Summe eines Jahresgehalt Bestechung an ihre Vorgesetzten zahlen, um nach Goa versetzt zu werden. Dementsprechend hatte das mit Motorrollern bestückte Partyvolk auch Angst von den Full-Moon-Partys in Vagator zurück nach Calangute zu fahren. Mehrfach war ihnen schon in dem versandeten Palmenwaldgebiet zwischen den beiden Ortschaften ein Knüppel in die Speichen gesteckt und der Zündschlüssel gezogen geworden, den sie nur durch Bezahlung einer bestimmte Summe an Geld wieder von den Polizisten auslösen konnten. Doch nicht jeder musste sich fürchten. Ein dicker Hüne aus England zum Beispiel brauchte nur laut „Get out of my way“ zu brüllen und schon ließen die Polizisten von ihm ab. Mehrfach hatte er bereits die uniformierten Ganoven zusammengeschlagen, die gegen seine geballte Kraft mit ihren Schlagstöcken nur wenig ausrichten konnten. Es gefiel mir in Goa, war ich nicht am Strand, so befand ich mich meistens in einem nahe gelegenen Restaurant mit Meerblick einige Meter neben meinem Wohnort und aß feuerscharf gewürzten Reis. Am Wochenende kamen meistens Männergruppen aus Hyderabad angereist, deren einziger Aufenthaltszweck der Konsum von Alkohol war, den man wie bereits erwähnt (Travel 07/1) in der dortigen Gegend verboten hatte. Ich musste darüber lachen, denn die Inder hier machten mir nicht den Eindruck, am Hungertuch zu nagen, wie man es in den Medien in Deutschland immer vor Augen geführt bekam. Nein, es gab in der Apotheke sogar kleine Pillen, die in geringer Dosis als Schlankmacher wirkten, da sie dem Konsumenten auf Dauer den Appetit verdarben. Von ihnen hatte auch das Partyvolk schon gehört und es war allgemein bekannt, das die Schlankmacher auch als Muntermacher wirkten und in größerer Dosis, so etwa 20 Pillen auf einen Schlag, die Wirkung von Amphetaminen entfalten konnten.

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Mein Haus in Goa

Ich pendelte in den folgenden Tagen unentwegt zwischen Vagator und Calangute hin und her. Beide Ortschaften waren über einen wunderschönen Strand verbunden, der aufgrund einer felsigen Kuppe dazwischen durchgehend nur Tags begangen werden konnte. Den Weg zurück von den Partys in Vagator musste man meistens umständlich zu Fuß begehen oder waghalsig bei einer fremden Person auf dem Roller mitfahren. Jede der Partys war ein Abenteuer für sich und man lernte unentwegt neue Menschen kennen. Sind wir an einem Steilhang, fragte ich mich eines Nachts, als das Gelände bei lauter Musik immer abschüssiger wurde? Ich war ziemlich orientierungslos, wanderte jedoch gut gelaunt die gesamte Nacht hindurch zwischen den einzelnen mit unterschiedlichen Stoffen, Farben und Lichtern ausgestatteten Teilbereichen einer Goa-Party herum. Einmal kam es mir so vor, als wären wir mitten im Wald, ein anderes Mal dachte ich, ich stünde direkt an einer Klippe. Erst als die ersten Sonnenstrahlen den Tag erhellten, wurde langsam klar, dass sich die Veranstaltung in einem Wald direkt an einem Felsenhang befand. Von hier aus konnte man Bestens über die Weiten des Meeres blicken, in dem sich ausgelassen tanzende, nackte junge Damen tummelten. Meine Zeit war immer etwa so gegen zehn Uhr morgens gekommen, als mich die Lust an den Feierlichkeiten verließ. So spät am Morgen sah es dann meist schon sehr übel auf dem Partygelände aus und es gab viele komisch umherschauenden Gestalten. Die Polizei war sehr wohl dazu bereit, die Veranstaltungen auch zu stürmen und auseinander zu schlagen, hatten die Veranstalter zuvor nicht eine entsprechende Summe an Schweigegeld bezahlt. Trat solch ein Fall ein, gab es noch Stunden später verängstigte Personen auf dem Partygelände, die unter völligem Zeitverlust leidend sich hinter den Bäumen und Büschen vor der Polizei versteckten, bis sie von Badegästen hervorgeholt und auf den Weg nach Hause geschickt wurden.

Reiseberichte:

Travel Report 7/1: Nach Süden statt nach Norden
Travel Report 7/2: Zwischen Teppich- und Peitschenhändlern
Travel Report 7/3: Zwischen Panzern und Party
Travel Report 7/4: Zwischen Tempeln und Palästen
Travel Report 7/5: Entkräftet

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Travel Report 07/2: Zwischen Teppich- und Peitschenhändlern

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Nahe des Hotels

1997, Agra: Ich schlenderte gelangweilt und genervt die Straße hoch und wurde noch immer von dem Peitschenhändler verfolgt, der mir sein nutzloses Produkt nun schon seit mehr als einer viertel Stunde angeboten hatte. Ein kleiner schwarzer, zerzauster Mann mit verrissener Kleidung und einer Turban ähnlichen Kopfbedeckung war es, der mich hier belästigte. Ursprünglich sollte die Peitsche vierhundert Rupien kosten, inzwischen waren nur noch vierzig, ohne dass ich ein einziges positives Wort über einen möglichen Erwerb des Gegenstandes von mir gegeben hatte. Gut einen Kilometer waren wir inzwischen vom Taj Mahal in Richtung Innenstadt gelaufen, wobei die Peitsche ungefähr alle 100 Meter um einen gewissen Betrag günstiger geworden war. Meine Beteuerungen, nichts mit seinem Angebot anfangen zu können, überhörte er schlichtweg, ja er ignorierte mich. Das Taj Mahal und die umliegenden Paläste waren wirklich schön gewesen, hätten sich dort nicht die vielen Händler herumgetrieben, die in einer ähnlichen Produktkategorie agierten wie mein Schatten, dabei jedoch weitaus weniger Ausdauer aufbrachten. Ich war am Vortag irgendwann abends in Agra angekommen. Der Zug aus Delhi war insgesamt vier Stunden verspätet gewesen, da ich nur zwei davon antizipiert hatte, bin ich noch weitere zwei Stunden an Delhi Railway Station herum gesessen. Dort hatte mir ein Passant eine viertel Stunde lang auf den Kopf gestarrt, während ich mir die Zeit mit einem Buch vertreiben wollte. Er ging erst, als ich ihm einige Sekunden ins Gesicht blickte. Ich wunderte mich von da an, was an meinem Kopf so interessant sein sollte, dass man ihn aus einer Distanz von etwa einem halben Meter eine viertel Stunden lang begaffen konnte. Sehr aufdringlich schienen mir die Leute hier zu sein und nun platzte mir der Kragen mit meinem Peitschenhändler. Ich fauchte ihn unfreundlich an, er solle sich jetzt endlich fort schleichen. Rechts und links schüttelte er mit dem Kopf, eine nicht deutbare Bewegung. „Fort“, „fort“ – rechts, links, „fort“, „fort“ – rechts, links. Völlig entnervt gab ich auf und überreichte ihm zwanzig Rupien flehend mit der Bitte verbunden, mich jetzt in Ruhe zu lassen. Die Peitsche durfte er behalten und ich war froh, als ich ihn entschwinden sah, obwohl ich strategisch gedacht, natürlich einen Fehler gemacht hatte.

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Am Taj Mahal

In Agra war es nicht einfach, ohne Umweg mit einer Rikscha von einem zum anderen Ort zu gelangen. Die Fahrer hatten die Angewohnheit, die Fahrgäste an den Orten herauszulassen, an denen sie eine Provision kassieren konnten. Immer war es ein guter Onkel oder ein lieber Verwandter, den man noch kurz besuchen sollte und der zwischen Ausgangsort und Zielort dazwischen geschaltet wurde. Schon mehrfach hatte ich mich weigern müssen, auf einem der Zwischenstopps auszusteigen. Auch dieses Mal dauerte es zwei Stationen ehe ich im Hotel ankam, in dem ich inzwischen auf dem Balkon saß und in Gedanken versunken mir die letzten Sonnenstrahlen über der im Dunst verschleierten Stadt anschaute. Da trat ein stämmig gebauter, rauer Motorradfahrer aus England mit einer Flasche Schnaps in der Hand aus dem Nachbarzimmer auf den Balkon heraus. Er setzte sich und bot auch mir einen Drink an, den ich dankend entgegennahm. Mit Hochachtung folgte ich seinen Ausführungen, wie er von London bis nach Agra hergefahren war, wie er bei netten Menschen im Iran übernachtet hatte, wie er von der Polizei durch Pakistan eskortiert wurde und wie er gedachte, nach Indonesien weiter zu fahren. Wir saßen da und tranken noch eine Weile. Als er mir schließlich erzählte, das Getränk auf einem lokalen Markt gekauft zu haben, wurde mir unwohl, wusste ich doch, dass schon viele Menschen hier in Indien von dem selbstgebrannten Schnaps blind geworden waren. In der Region um Hyderabad herum war es der weiblichen Wählerschaft sogar gelungen, ein komplettes Alkoholverbot politisch durchzusetzen, da zu viele Männer sich dem Alkohol gewidmet hatten und viele davon erblindeten. Unbegründete Sorgen, wie sich bald herausstellen sollte, jedenfalls konnte ich am kommenden Tag so gut sehen wie je zuvor und sah auch erstaunliches, nämlich einen Schlangenbändiger, der drei Kobras gleichzeitig zum Tanzen brachte.

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Bei dem Teppichhänlder

Am Tag vor meiner Abreise aus Agra saß ich erneut auf einer Fahrradrikscha und hatte dem Fahrer den doppelten Preis geboten, wenn er mich direkt vom Zentrum der Stadt zu meinem Hotel bringen würde. Doch selbst das hat nichts genutzt und voller Zorn fand ich mich schon wieder, es muss bereits das dritte oder vierte Mal gewesen sein, bei einem Teppichhändler vor. Sogleich war ich mit diesem in einem Streitgespräch. Ja, der Teppich konnte für umgerechnet siebenhundert Dollar schon günstig sein, sofern er echt war. Aber, argumentierte ich, könnte ich das gar nicht prüfen. Darüber hinaus wäre ich noch weitere zwei Monate auf Reisen, könnte einen Teppich also gar nicht gebrauchen. Auf jeden meiner Einwände wusste der Händler Rat und Abhilfe. So meinte er, dass er einen Experten holen könnte, der anhand eines Zertifikats die Echtheit des Teppichs bestätigen würde und gegen Barzahlung wäre es möglich, den Teppich sogleich verschiffen zu lassen. Ich wurde noch ungehaltener über diese Unverfrorenheit. Nie, erwiderte ich, wäre ich bereit Bargeld auszuhändigen und rannte hinaus zur Rikscha. Los, schnaubte ich den Fahrer an, über den ich mich sehr ärgerte. Nach einigen Minuten drehte er sich zu mir um und entschuldigte sich mit dem Hinweis, das Geld für seine Familie zu benötigen. Ich hatte mich inzwischen wieder besänftigt und sah wie spindeldürr er war und dass er womöglich jeden Tag mehr Kalorien verbrauchen würde, als er zu sich nahm. Ich versicherte daraufhin, dass alles nicht so schlimm sei, wenn er mich jetzt wirklich direkt zum Hotel bringen würde. Als wir keine zehn Minuten später mitten in der Stadt einen Hügel hinauf fahren mussten, wurde er von seinen Kräften im Stich gelassen. Zum entsetzen der Passanten am Straßenrand stieg ich ab und half, die Rikscha hinauf zu schieben. Mit geballten Fäusten standen die Turbanträger am Straßenrand, ich hatte in dem Kastenwesen Indiens mit meiner Hilfsaktion wohl einen gesellschaftlichen Ehrenkodex verletzt, der zwar meiner Kultur fern war, einem Verständigen der indischen Kultur jedoch im innersten verletzend vorkommen musste.

Reiseberichte:

Travel Report 7/1: Nach Süden statt nach Norden
Travel Report 7/2: Zwischen Teppich- und Peitschenhändlern
Travel Report 7/3: Zwischen Panzern und Party
Travel Report 7/4: Zwischen Tempeln und Palästen
Travel Report 7/5: Entkräftet

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Travel Report 07/1: Nach Süden statt nach Norden

1997, Delhi: Von den Südamerikareisen war ich schon einiges gewohnt, einen vergleichbar heruntergekommenen Bus wie vor dem Flughafen in Delhi hatte ich aber noch nie gesehen. Verbeult, verrostet, technisch in katastrophalem Zustand, ohne Windschutzscheibe und vollgestopft mit dunklen Leuten. Ich quetschte mich auf den letzten Platz vorne direkt neben dem Busfahrer und war auf der Fahrt in Richtung New Delhi Railway-Station sehr verwundert über die vielen Gestalten, die am Straßenrand halb nackt da saßen und in den Tag hinein lebten. Dem Kontrolleur hatte ich mitgeteilt, an den Main Bazar fahren zu wollen und ihn gebeten, mich dort heraus zu lassen. Er meinte, alle Hotels und Unterkünfte am Bazar wären teuer, schmutzig, außerdem ausgebucht und er hätte einen besseren Tipp für ein hervorragendes Hotel direkt im Zentrum. Mir kam das nicht geheuer vor und ich machte jede Wette, er wollte eine Provision kassieren. In der Stadt angekommen, achtete ich penibel darauf, den Ausstieg aus dem Bus nicht zu verpassen. Als mich der Kontrolleur mit seinen Beteuerungen erneut in die Irre leiten wollte, sprang ich auf die Straße und provozierte dadurch ein paar zornige Worte, die mir von ihm hinterher geschleudert wurden. Ich hatte Glück, die Railway Station war gleich um die Ecke. Als ich sie durch einen Hintereingang betrat, verlor ich kurz die Orientierung, atmete erst einmal durch, ging dann langsam weiter. Ich hatte mit einem Bündel von Kleidern, das fünf Kilogramm wog, prinzipiell mein bisher leichtestes Gepäck dabei, das ich je zuvor auf Reisen mitgenommen hatte, wäre da nicht noch die Hantel mit einem Gewicht von zwanzig Kilogramm gewesen, die wie ein Mühlstein quer in meinem Rucksack lag. Schnell durchquerte ich die düsteren Hallen und fand bald den Haupteingang und somit den Weg nach draußen zu dem Bazar. Vor dem Bahnhof überwältigte mich der Anblick der Menge an Menschen, die sich einem Ameisenhaufen gleich unter mir durch die Straßen  in regem Treiben hin und her bewegten.

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Auf dem Currymarkt

Vom Bahnhof aus war die Main Bazar Road einfach auszumachen, schnell lief ich sie hinauf und fand nach einigen erfolglosen Anläufen in halb zusammengefallenen Pensionen schließlich eine passende Unterkunft. Mein Plan war es, insgesamt acht Wochen lang den indischen Subkontinent und seine Ausläufer zu bereisen, wobei der Schwerpunkt das nördlich gelegene Nepal bilden sollte. Auf der Straße hatte mich bereits ein Reisevermittler angesprochen und mir als Empfehlung Kashmir anstelle von Nepal angedient, ich lehnte jedoch ab, da ich die politische Lage in der umkämpften Region als zu instabil einschätzte. Als ich später das Hotel verließ und ein Restaurant aufsuchen wollte, stand er schon wieder da, als hätte er die ganze Zeit gewartet und beschwor mich mit weiteren Beteuerungen über die Vorzüge und die Schönheiten Kashmirs. Ihn loszuwerden war ein äußerst anstrengendes Unterfangen und es gelang mir erst, als ich das Restaurant betrat. Unvertraut mit der indischen Küche bestellte ich mir ein Tandoori Chicken mit Reis und war über die ungeheure Schärfe des Gerichtes verwundert ohne zu ahnen, dass es sich bei dem Feuerhühnchen noch um eine vergleichsweise milde Mahlzeit handeln sollte. Zurück auf der Straße wartete erneut der Reisevermittler und er schaffte es tatsächlich, mich in sein Büro zu locken, um mir anhand von einem Bildband die Möglichkeiten einer Reise  Kashmir schmackhaft zu machen. Ich lehnte erneut ab, buchte aber eine Delhi Sightseeing Rundfahrt für den folgenden Tag. Den Rest des Tages vertrieb ich mir in den engen Gassen des Bazars und trat dabei aus Spaß eine Rikschafahrt durch das Labyrinth der Händler und Verkaufsstände an. Der alte Fahrer kämpfte sich ab, so ein Engagement musste belohnt werden, dachte ich als wir etwa die Hälfte der vereinbarten Dauer von einer halben Stunde in den schmalen, dunklen und dicht bevölkerten Gassen zurückgelegt hatten. Dann fuhr mir plötzlich in den Kopf, dass ich den Preis nicht vorab ausgehandelt hatte und jetzt wohl über das Ohr gehauen werden würde. Zurück an der Delhi Railway-Station verlangte der alte Fahrer umgerechnet zehn US-Dollar für seine Dienstleistung. Ich hatte viele Sympathien für den Greis und war bereit das Geld zu bezahlen, allerdings schämte ich mich auch dafür, gleich am ersten Tag wie Anfänger über den Tisch gezogen worden zu sein und versuchte den Vorgang so diskret wie möglich abzuwickeln. Doch als ich aufschaute, starrten mich die Passanten mit erschrockener Miene an. Wahrscheinlich hatte ich mehr bezahlt, als ein Rikschafahrer in einer ganzen Woche üblicherweise verdiente.

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Mit der Riksha

Schon in der Nacht gerieten meine Nepal Pläne gehörig ins Wanken. Zwar verfügte ich über eine dicke Decke im Bett des fensterlosen Zimmers meines Hotels, doch lag ich auf gespannten Bastschnüren. Aufgrund der fehlenden Matratze  schlich sich die Kälte von unten heran, ich musste in voller Kleidung schlafen und fror trotzdem noch. Angemessene Ausrüstung für Nepal habe ich also nicht dabei, überlegte ich mir, meine zwanzig Kilo schwere Hantel konnte mir bei dem Problem ja schwerlich weiterhelfen. Ob ich bei dieser Kälte in den viel höher gelegenen Regionen des Nachbarlands tatsächlich bestehen konnte, hielt ich angesichts der nächtlichen Erfahrung für unwahrscheinlich. Es war Mitte Januar, tagsüber bei Sonnenschein hatte es fünfundzwanzig Grad, aber des Nachts kam die Temperatur dem Gefrierpunkt nahe. Als ich am frühen Morgen des folgenden Tages aufgrund dieser Erkenntnis etwas betrübt die Straße betrat, herrschte eine ungewohnte Atmosphäre vor. Das Rinnsal der Verwesung, wie ich den kleinen offenen Abwasserkanal nannte, der überall am Straßenrand zu finden war, dampfte fröhlich vor sich hin. Die Luft war von faulen Gerüchen geschwängert und es war noch immer sehr kühl. Erst als die ersten Sonnenstrahlen auf die Straße leuchteten hellte sich auch meine Gefühlslage auf und ein schöner Tag stand bevor. Ich trat meine Sightseeing Tour zu den Sehenswürdigkeiten der Stadt an, ein Höhepunkt und gleichzeitig auch ein Tiefpunkt stellte das Red Fort dar. Faszinierend die Architektur und abstoßend die Bettler. Einem kleinen Mädchen, das meiner Einschätzung nach nicht älter als fünf Jahre gewesen sein konnte und mit einem Baby auf dem Arm da stand, kam meine Alimentation von einem Dollar in Rupien zu gering vor. Aggressiv ging mich das Bettelkind an und verlangte einen Nachschlag, dabei hatte ich schon den ersten Dollar ganz entgegen meiner Vorsätze ausgehändigt. Zur Schule gehen soll der kleine Teufel, dachte ich, denn ich war fester Überzeugung, dass die Unterstützung von bettelnden Kindern eine kontraproduktiv Auswirkung hat. Drei Jahre zuvor  in Kolumbien hatte ich Menschen gesehen, die von ihren Eltern nur zum Bettlerzweck verkrüppelt geworden waren, um aufgrund des Mitleid erregenden Zustandes zu höheren Einkünften zu kommen, solches Mitleidgeschäft war mir suspekt.

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Blick vom Red Fort

Zwei Tage später, die mir der Reiseagent mit seinem Kashmir Angebot beständig nervend auf den Fersen geblieben ist, schaute ich verwundert vom Portal der New Delhi Railway-Station auf die Szene, die sich unter mir darbot. Ein Motorradrikschafahrer hatte einen Hund überfahren und nun stand ein Halbkreis von Menschen um ihn herum, die böse auf ihn einschimpften, während er neben dem reglosen Geschöpf auf den Knien liegend um Abbitte flehte. Der Hinduismus hatte andere Regeln, die ein Europäer nur schwer verstehen konnte. Jedenfalls musste der Mann nun befürchten, in einem anderen Leben noch weiter die Kasten hinabzusteigen. Der Buddhismus, der im nördlich gelegenen Nepal praktiziert wurde, war da nicht so streng. Doch alle meine Pläne dort hin zu reisen, hatte ich inzwischen schweren Herzens zu Grabe getragen, anstelle dessen sollte es in den warmen Süden weiter gehen. Als nächstes Ziel war Agra angepeilt, um dort das Taj Mahal zu besichtigen. Einen kurzen Abstecher nach Varanasi, wo die Inder zur seelischen Beruhigung in den verdreckten Ganges steigen, hatte ich mir auch überlegt, aufgrund des damit einhergehenden Umwegs das Vorhaben jedoch wieder verworfen. Ich war nun seit vier Tagen in Indien und noch nicht ein einziges Mal ordentlich auf der Toilette gewesen. So etwas hatte ich noch nie erlebt, die Umstellung für den Magen aufgrund des scharfen Essens, das mir immer mehr zusagte, muss immens gewesen sein. Allerdings gab es trotz des bis dahin ausgefallenen Stuhlgangs keine negativen Auswirkungen auf mein Wohlbefinden. Vielleicht war der Grund auch im bisher ausgebliebenen Alkoholkonsum zu suchen, der mich vor Magenbeschwerden verschonte. Zwar war mir einmal ein englischer Pub ins Auge gefallen, sonst hatte ich aber noch kein Angebot von alkoholischen Getränken zur Kenntnis nehmen können. Ich war also fit für die Weiterreise und die Zeit des Aufbruchs war gekommen. Am nächsten Tag sollte der Zug offiziell gegen zehn Uhr morgens von der Railway-Station nach Agra abfahren. Ich nahm mir vor, so gegen zwölf Uhr dort zu sein, denn zwei Stunden Verspätung war laut meinen Informationen das Minimum, was man einkalkulieren musste.

Reiseberichte:

Travel Report 7/1: Nach Süden statt nach Norden
Travel Report 7/2: Zwischen Teppich- und Peitschenhändlern
Travel Report 7/3: Zwischen Panzern und Party
Travel Report 7/4: Zwischen Tempeln und Palästen
Travel Report 7/5: Entkräftet

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Me in the World

2012 Arusha, Tanzania
2014 Yerewan, Armenia
2014 Oshedo, Georgia
2014 Okavango Delta, Botswana
1995 Belem, Brazil
2009 Asowches Meer, Ukraine
2014 Stellenbosch,  South Africa
2015 El Porvenir, Panama
2011 Dawson, Canada
2010 Usbekistan
2003 Trinidad, Cuba
2009 Black Sea
2009 Caucasus, Russia
2010 Bukhara, Usbekistan
1995 Maccu Piccu, Peru
1997 Goa, India
1995 Ciudad Guyana, Venezuela
2015 Maratua
2015 Marakkech, Morocco
2008 Grand Canyon, USA
2015 Thagazout, Morocco
2014 Isfahan, Iran
2005 Trinidad, Cuba
2014 Namibia
2014 Teheran, Iran
2009 Odessa, Ukraine
2008 Monument Valley, USA
2015 Kinabatangang
2008 Zion, Usa
2012 Hong Kong
2010 Bukhara, Usbekistan
2009
1997 Mysore, India
2015 Little Corn Island, Nicaragua
2014 Livingsone, Sambia
2010 Moynaq, Usbekistan
2010 Aralsee, Usbekistan
2015 Big Corn Island, Nicaragua
2009 Popovka, Ukraine
2015 Fes, Morocco
2014 Danzig, Poland
2010 Kasgar, Usbekistan
2014 Baku, Aserbadjan
2012 Pjongjang, North Korea
2012 Arusha, Tanzania

Travel Report 3/2: Kontrolle in Trujillo

1995, Peru: Von der Luna Bar in La Paz hatte ich aufregendes gehört und wollte unbedingt dort einen Besuch abstatten, doch der Weg war noch weit und ob ich meine Reise würde fortführen können, stand in den Sternen, als mich die peruanische Polizei kurz nach der verdreckten und verstaubten Stadt Trujillo auf dem Weg nach Lima aus dem Bus heraus zur Wache führte. Die Wochen zuvor hatte ich mich in Quito und Banjos in Ecuador aufgehalten und dabei eine große Anzahl an Menschen aller Art kennengelernt. Neben Aussteigern und Lebemännern, Abenteurern und Vagabunden, gab es auch kulturell interessierte Personen, Bergsteiger und Naturliebhaber. Zudem hatte es auch das eine oder andere Pärchen aus Deutschland hierher verschlagen, das vermutlich dem Pauschaltourismus entfliehen wollte und nun nach kalkulierbaren Abenteuern suchte, sich aber nicht nach Kolumbien traute. Eins lernte ich bei den abendlichen Runden des Gedankenaustausches mit diesen Personen: Finger weg vom Weißwein in allen Ländern nördlich Chiles! In einer warmen, Mond beleuchteten Nacht in Quito, als ich mit anderen Reisenden zusammen im Innenhof eines alten spanischen Kolonialgebäudes saß, hatte ich nur eine Flasche getrunken, war von dem Zuckerwasser am kommenden Tag aber jämmerlich verkatert und fühlte mich bis in den späten Mittag hinein wie ein neunzigjähriger Mann im Stadium weit fortgeschrittener Gliederversteifung. Nach dem dies überstanden war, stellte sich als Höhepunkt des Aufenthaltes in Ecuador die Kriegsdeklaration an Peru dar, die aufgrund von Streitigkeiten um ein Stück Urwald, am Plaza Bolivar unter großem Menschenauflauf stattgefunden hatte. Aus diesem Anlass hatte sich auch die bisherige Fahrt in dem Bus nach Lima stark verzögert, da wir in kurzen Abständen immer wieder an Militärposten passieren mussten und dabei nicht selten durchsucht wurden.

Prinzipiell war ich reinen Gewissens, als ich die Polizeiwache betrat, doch man konnte nie wissen, in welchen Ärger man bei einer Kontrolle hineingezogen werden würde, gehörte die Polizei doch zu der Menschengruppe, gegenüber der ich in Südamerika am meisten Argwohn hegte. In Kolumbien war es immer das oberste Gebot gewesen, auf keinen Fall einen Gegenstand von jemandem auf der Straße in die Hand zu nehmen, zum Beispiel ein Souvenir. Die Gefahr war zu groß, dass es mit Rauschgift gefüllt war und der Anbieter mit der Polizei kollaborierte. Kaum hatte man es angefasst, so die Warnung, würde prompt die Verhaftung durch die auf der Lauer liegenden Ordnungshüter erfolgen, die in erpresserischer Absicht auf solche Situationen warteten. Es ging dabei um Lösegeld zur Vermeidung einer Gefängnisstrafe. Außerdem, so meine Befürchtung, hätte mir jemand auf der Reise etwas in meine Tasche legen können, die während der Fahrt auf dem Dach des Busses festgebunden war und schließlich konnten die Schurken von der Polizei mir auch selbst etwas in die Schuhe schieben. Ich wurde bis in den Allerwertesten hinein in einem Hinterzimmer der staubigen Polizeiwache durchleuchtet und durfte zu meiner große Erleichterung nach etwa einer halben Stunde wieder gehen. Mein Ansinnen mit der Luna Bar wollte ich mir nach dieser Erfahrung nun noch mal überlegen. Vielleicht waren die verführerischen Dinge, die es dort geben sollte, doch mit einer zu großen Gefahr behaftet.

0010 Quito (Copy)

Im Hotel

Als ich mich wieder auf meinem Platz im Bus eingefunden hatte und dieser die Weiterfahrt antrat, begann meine Platznachbarin erneut wie ein Buch auf mich einzureden, ähnlich wie schon in den Stunden zuvor. Ich verstand kein Wort und antwortete vereinzelt mit „Si“ oder „No“, was sie geradezu animierte, immer weiter und weiter zu reden, so dass sich ein wahrer Wortschwall über mir ergoss. Ich muss die Si‘s und No‘s so gut eingestreut haben, dass sie optimal in ihren Redeschwall passten, erst als sie kurz vor dem Ende der Fahrt eine Frage stellte, die ich nicht mehr mit „Si“ oder „No“ beantworten konnte, kehrte endlich Ruhe ein. Nach ungefähr 24 Stunden und einer unangenehmen Nacht im Bus erreichten ich schließlich Lima. Ich war verstaubt und verschwitzt und wollte so schnell wie möglich in ein Hotel kommen. Kaum war ich aus dem Bus ausgestiegen, schon umschwärmten mich vier hübsche junge Damen, was mir in meinem Zustand ziemlich peinlich war. Sie trugen mir meine Tasche bis ins Hotel und wir verabredeten uns für den Abend. Die Frauen waren hier, wie ich feststellen musste, sehr nett und aufgeschlossen, durchwegs von Kolumbien bis Peru.

Um sechs Uhr abends wartete ich wie vereinbart vor dem Hotel, doch niemand ist erschienen. Unschlüssig, was jetzt zu tun war, kaufte ich einige Flaschen Bier, den Aquardiente (Travel 2) gab es außerhalb Kolumbiens leider nicht. Anschließend setzte ich mich auf die riesige Dachterrasse vor meinem Zimmer und hörte meine eigens für die Reise zusammengestellte Best-off Collection der Doors aus dem Kassettenrecorder an. Es vergingen gut zwei Stunden, ehe  aus der Ferne vertraute „Techno“ Musik zu hören war. Diesen Ort wollte ich finden, da ich dort eine ausgelassene Party vermutete und machte mich unvermittelt auf den Weg. Die Nacht endete im Chaos, plötzlich zog ich mit einem peruanischen Pärchen von Bar zu Bar und schmiss in angeheitertem Zustand eine Runde nach der anderen. Als es kurz vor sechs Uhr morgens war und ich wieder vor meinem Hotel stand, waren die beiden noch immer mit dabei und beschimpften mich wüst angesichts der Tatsache, dass ich für sie in dieser Nacht keine weitere Runden mehr spendieren würde. Mein Verhalten war eine große Nachlässigkeit und es war ein teurer Abend, der empfindlich in mein Reisebudget eingeschnitten hatte.

032 Lima (Copy)

Love Park Lima

Auf der Terrasse vor meinem Zimmer auf dem Dach des Hotels lernte ich zwei Tage später einen französischen Reisenden kennen. Großgewachsen, gut aussehend und mit blonden Haaren, kaum älter als ich, vielleicht zweiundzwanzig. Er schien aufgrund seines Aussehens das Böse, wie auch das Gute magisch an sich zu ziehen. Als wir am kommenden Tag eine Mädchenschule passierten an der gerade Pause war, fühlten wir uns wie Hollywood Stars auf dem roten Teppich, als der gesamte Schulhof voller uniformierter Schülerinnen an das Absperrgitter heran sprang, um uns beim Vorbeilaufen ausgelassen zu zuwinken. Einige Straßen weiter standen wir dann wie angewurzelt da und sahen schon das Unheil auf uns zukommen. Ein Passant hatte es auf die Armbanduhr meines französischen Kollegen abgesehen und obwohl wir es ahnten, konnten wir nicht reagieren. Wie in Zeitlupe schien der Dieb auf uns zu zukommen, riss die Uhr vom Arm meines Begleiters und lief langsam in die Menge hinein. Wir schauten ihm wie einbetonierte  Bronzestatuen nach und noch immer war keine Reaktion möglich. Da bemerkten wir zwei nobel gekleidete Männer hinter ihm. Sie packten den Dieb und schlugen ihn auf das schlimmste zusammen, noch auf ihn eintretend, als er schon zu Boden lag. Wir waren inzwischen wieder bewegungsfähig und baten alle zur Mäßigung, erhielten die Uhr zurück und ließen den Gauner laufen. Ich war anschließend froh, braungebrannt und mit schwarzen Haaren, einem Südländer zu gleichen, dafür aber auch das Böse wie das Gute weniger stark auf mich zu ziehen.

Reiseberichte:

Travel Report 3/1: In den Krieg
Travel Report 3/2: Kontrolle in Trujillo
Travel Report 3/3: Am Titicaca See
Travel Report 4/1: Durch die Klimazonen
Travel Report 4/2: Am Ende der Welt
Travel Report 4/3: Zu den Christen
Travel Report 5/1: Mode und Prostitution
Travel Report 5/2: Betrunken im Bus nach Belem
Travel Report 5/3: Am Amazonas
Travel Report 6/1: Durch den Urwald
Travel Report 6/2: In Gewahrsam

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Travel Report 3/3: Am Titicacasee

054 Maccu Piccu (Copy)

Am Maccu Piccu

1995, Pune (Peru): War dies die Vorbereitung auf die Luna Bar, dachte ich, als in zeitverzerrten aber klangklaren Tönen der „Shaman Blues“ aus den Miniboxen meines Kassettenrecorders drang? Ich war von Lima nach Cuzco geflogen, da zu meinem Leidwesen die spektakuläre Bahnfahrt aufgrund von Aktivitäten einiger Guerilla-Banden im Gebiet um El Tambo sicherheitsbedingt nicht möglich war. Cuzco und der Macchu Pichu mit seiner historischen Bedeutung sind außerordentlich schöne Sehenswürdigkeiten gewesen, noch besser aber gefiel mir die Bahnfahrt zwischen den beiden Orten, die mich etwas für die entfallene Fahrt ab Lima entschädigen konnte. Die Züge fuhren hier im Zickzack die senkrechten Felswände hoch, indem sie wie ein Uhrenpendel hin und her schwingend quer zum Berg sich immer ein kleines Stück weiter nach oben arbeiteten. In Cuzco hatten nach drei Wochen endlich meine Magenprobleme ein Ende gefunden, die von Durchfall und Schmerzen geprägt waren. Ich wusste nicht, ob ich die neue Gesundheit meiner Brotkur oder den beiden Cocktails, die ich in einer Bar zu mir nahm, zu verdanken hatte. Wie es möglich ist, fünf Getränkeschichten einzuschenken, ohne dass diese ineinander fließen, ist mir bis heute ein Rätsel geblieben. Der Barmann in Cuszco beherrschte sein Handwerk perfekt und hatte mir mit seinem Mix einen ordentlichen Schwips verpasst, worauf die Magenprobleme verschwanden.

095 Titicaca Pune (Copy)

Die Überfahrt

Die Zugfahrt von Cuzco hierher nach Pune hatte auf eine Höhe von knapp 4.500 Metern geführt, eine idyllische Strecke mit schneebedeckten Bergen im Hintergrund und vereinzelten Lamaherden davor, die als schmückendes Beiwerk des Panoramas dienten. Pune selbst lag immer noch auf einer Höhe von 4.200 Metern, dementsprechend kalt war es am Mittag gewesen, als wir im strömenden Regen in einer Bar unter einer Plastikplane Platz genommen und den Karnevalsumzug beobachtet hatten. Dem heiteren Treiben der Maskierten konnte das Wetter nichts anhaben, in aller Fröhlichkeit waren sie tanzend durch die Straßen gezogen. An die Temperaturen nicht gewohnt und auch nicht mit adäquater Kleidung versehen, war ich nun froh, in meinem Bett zu liegen und der Musik zuzuhören. Jeder Ton drang einzeln und auf eine mir bis dahin noch nie bewusst gewordenen Art und Weise vollkommener Klarheit in den Raum, bis diese Harmonie plötzlich von einer energischen Intervention unterbrochen wurde. Ein Österreicher, den ich tagsüber kennen gelernt hatte und der nun in einem anderen Bett im selben Raum lag, forderte mich roh auf, die Musik abzustellen. Zunächst hatte er einen sehr lässigen Eindruck auf mich gemacht, worauf ich ihm zusagt hatte, dass er bei mir aufgrund seiner Geldknappheit übernachten könnte. Im Zeitverlauf wurde er jedoch immer nerviger und hatte mich früh schon auf meinem Barhocker alleine sitzen lassen. Ich überlegte, ob ich noch einmal zurück an die Bar gehen sollte, jetzt da die Musik in meinem Zimmer aus war, verwarf aber dann den Gedanken aufgrund der wenig einladenden Gesichter, die mir dort zuvor begegnet waren.

094 Titicaca Pune (Copy)

Am Titicaca See

Der kommende Morgen wurde von strahlendem Sonnenschein erleuchtet, knisternd war die Aufbruchstimmung zu spüren, die der junge Tag in seiner noch kühlen Atmosphäre versprühte. Heute sollte die Fahrt nach Bolivien stattfinden und zu meiner besonderen Freude lag der Titicacasee auf dem Weg. Zunächst begann die Busfahrt recht unspektakulär, was sich bald änderte, als der See vor uns wie ein riesiger blauer Saphir in der Sonne blitzte. Kurze Zeit später versperrte uns eine breite Wasserscheide die Weiterfahrt. Von einer Brücke war nichts zu sehen, und ich traute meinen Augen kaum, man verfrachtete unseren Bus kurzerhand auf einen hölzernen Kahn. Wir Passagiere stiegen aus und wurden auf einem zweiten Boot über das Wasser gebracht. Ich war recht angespannt, nicht dass ich mir um mich Sorgen machte, sondern vielmehr um das Fahrzeug. Ein einziger Windstoß, so zumindest musste man befürchten, als man die schaukelnde Angelegenheit von der Distanz beobachtete, würde ausreichen, um das Floß zum kentern zu bringen und den Bus zusammen mit meinem Rucksack zu versenken. Doch alle Sorgen waren umsonst, die Schiffer waren sehr erprobt bei dieser für mich so ungewohnten Aktion, Bus und Passagiere erreichten schließlich wohlbehalten das andere Ufer.

091 Titicaca Pune (Copy)

Grenze Boliviens

Als sich die Passagiere von dieser wackeligen Überfahrt erholt hatten und noch einige Zeit weiterfuhren, öffneten sich erneut die Weiten des am höchsten gelegenen Sees der Welt. Ein phänomenaler Blick tat sich auf das von braunen Bergen gesäumte dunkelblau glitzernde Wasser auf. Es tat mir etwas leid, hier keinen Zwischenstopp eingeplant zu haben, aber der logistische Aufwand wäre zu groß gewesen. Es dauerte nicht mehr lange, da erreichten wir die Grenze zwischen Bolivien und Peru, die nur aus einem Steinbogen bestand. Hier war auch Schluss für einen Passagier, der keinen Reisepass mit sich führte und mit Handschellen abgeführt wurde. Die Grenzformalitäten für die anderen Passagiere gingen schnell von der Hand und es dauerte nicht lange, ehe sich La Paz unter uns ausdehnte. Als ich am folgenden Tage durch die Straßen der Stadt schlenderte, musste ich feststellen, dass die Frauen hier ziemlich dick und rund in ihren bunten Gewändern da saßen. Nichts schien sie mit den schlanken und schönen Chileninnen, die ich noch am Maccu Piccu gesehen hatte, zu verbinden. Auch schien es sich um einen anderen Typus von Menschen zu handeln, als es noch im Norden in Kolumbien der Fall gewesen war, weniger spanisch dafür mehr indianisch.

Reiseberichte:

Travel Report 3/1: In den Krieg
Travel Report 3/2: Kontrolle in Trujillo
Travel Report 3/3: Am Titicaca See
Travel Report 4/1: Durch die Klimazonen
Travel Report 4/2: Am Ende der Welt
Travel Report 4/3: Zu den Christen
Travel Report 5/1: Mode und Prostitution
Travel Report 5/2: Betrunken im Bus nach Belem
Travel Report 5/3: Am Amazonas
Travel Report 6/1: Durch den Urwald
Travel Report 6/2: In Gewahrsam

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Travel Report 4/1: Reise durch die Klimazonen

1995, Bolivien/Chile: Als sich der alte, halb zerfallene Bus langsam die Wüste südwestlich von La Paz hinauf quälte, hatte ich das Gefühl, etwas verpasst zu haben. Tatsächlich war ich am Tag zuvor vor der Luna Bar gestanden, wandte mich aber aufgrund der Erfahrungen mit der Polizei in Peru (Travel Report 3/2) ab und ging unverrichteter Dinge wieder in mein Hotel zurück. Jetzt, während große Kakteen an dem Bus vorbeizogen als wären sie die stummen Wächter einer ewigen Einöde und die Landschaft in dem Ambiente eines alten Western Films erleuchtete, stellte sich die Frage, ob ich ein Feigling gewesen war. Die Gedanken verflogen aber bald, als ich mich mit meinem Platznachbarn im Bus anfreundete, der unentwegt auf einem Streichholz nagte. Er war mit einer Gruppe von bildhübschen jungen Frauen unterwegs, die eine ähnliche Strecke wie ich zurückgelegt hatten und ebenfalls vom Maccu Piccu kamen, um zurück in ihr Heimatland zu reisen. Die meisten jungen chilenischen Männer trugen zu dieser Zeit einen Zopf, sofern sie eine gewisse modische Intelligenz besaßen und sahen mir dadurch zum Verwechseln ähnlich. Das war auch der Grund gewesen, weswegen ich am Maccu Piccu nicht den Eintrittspreis für Europäer bezahlen musste, sondern in die Gunst einer deutlichen Ermäßigung gekommen war, man hatte mich dort offenbar für einen chilenischen Staatsbürger gehalten. Nach einigen Stunden Fahrt, es ging wirklich sehr langsam voran und wir erreichten im Durchschnitt bei weitem nicht die üblichen fünfzig Kilometer Wegstrecke pro Stunde, veränderte sich die Landschaft zunehmend in ein flimmerndes Meer aus verschiedenen Brauntönen, das zeitweise von blauen Wasserlachen mit rosaroten Flamingos unterbrochen wurde. Die Altiplanos waren erreicht und hier oben lag auch die Grenze zwischen Bolivien und Chile.

Es sah aus, als wäre ein Strich mit dem Lineal gezogen geworden, als die staubige Piste Boliviens in die asphaltierte Straße Chiles überging. Noch vor dem Grenzübertritt legten wir eine Pause ein. Zeit, um eine Erfrischung in dem einzigen Laden hier oben im Niemandsland zu kaufen. Wir betraten eine aus Lehm und Ästen gebaute Hütte in der höchstens ein Dutzend verschiedener Waren angeboten wurden und eine steinalte Frau hinter der Verkaufstheke stand. Mein chilenischer Weggefährte bestellte jeweils eine Dose Cola für uns beide, was kein einfaches Unterfangen war, denn die alte Dame wusste nicht, um was es sich bei diesem Produkt handeln sollte. Erst als die Bestellung von „Coca Cola“ auf „rote Dose“ abgeändert wurde, erhielten wir unser Getränk. Obwohl die Frau mit Sicherheit eine Analphabetin war, verstand ich nicht, wie man bei dieser geringen Anzahl an Artikeln, die zum Verkauf angeboten wurden, den Produktnamen nicht kennen konnte. Auch mein Weggefährte stand nur hilflos lächelnd da und zuckte mit den Schultern.

111 Atacama (Copy)

Atacama

Es dauerte noch drei Stunden, ehe wir Arica erreichten, eine Stadt die endlich wieder die Annehmlichkeiten vorweisen konnte, die wir aus Europa gewohnt waren. Cafes, gängige Fastfood Restaurants, ja sogar Zeitschriften aus Europa gab es hier, die mit einem Tag Zeitverzögerung erschienen, was es mir erlaubte, mich über die Geschehnisse in der heimischen Fußballliga zu informieren. Ich buchte zusammen mit meinem chilenischen Begleiter und dessen Freundinnen ein Zimmer in einem Hotel in der Nähe des Busbahnhofs, indem wir uns nach der anstrengenden Fahrt mit vorzüglichem chilenischem Rotwein in einer angenehmen, lauen Sommeratmosphäre belohnten. Zur Belustigung aller war ich zuvor entsetzt zur Rezeption gerannt, als ich die fehlende Decke und die ersatzweise schattenspendenden Schlingpflanzen bemerkte, die an Drähten entlang über dem Zimmer thronten. Mild hatte mir die Empfangsdame entgegen gelächelt und mir auf Lebenszeit freie Unterkunft angeboten, sollten meine Befürchtungen eintreten und es während unseres Aufenthalts zu regnen beginnen. Nachdem sich die Belustigung im Zimmer gelegt hatte versicherten mir die Chilenen, dass es hier gar nicht regnen könne.  Eine alte Frau klärte mich später darüber auf, dass sie seit ihrer Geburt in Arica wohnen würde, noch nie aber Regen gesehen hätte. Ich befand mich jetzt in der Atacama-Wüste, dem wohl trockensten Flecken auf dem Planeten von dem aus die Wissenschaftler mit riesigen Fernrohren in den Himmel schauen und in dem die ältesten Kindermumien aus dem Sand ragen und zu Schlamm verfallen.

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Im Tal

Zwei Tage später trennten sich die Wege von der Gruppe der Chilenen und mir, da ich nach Santiago de Chile aufbrach. Zunächst durchfuhr ich Stunden lang die Atacama-Wüste, ehe sich nach gut einem Tag die Landschaft langsam wandelte und das erste Grün aufblühte. Im weiteren Verlauf der Fahrt wurde die Umgebung immer fruchtbarer, bis ich im sogenannten „Valley“, im „Tal“ ankam, in dem die Trauben, die hier für den berühmten chilenischen Wein angebaut wurden, fast so groß wie Eier waren. Ich wäre mir hier vorgekommen wie zu Hause in Deutschland, hätte die Sonne nicht unentwegt geschienen und wären die Trauben nicht so groß gewesen. Es war schön im Tal, friedlich und ruhig, eine ganz und gar andere Atmosphäre als in den nördlichen Andenländern, vergleichbar mit Stellenbosch in Südafrika, aber das konnte ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen. Gut einen weiteren halben Tag später erreichte ich schließlich die Hauptstadt und erneut war ich erstaunt, denn ich hätte sie leicht mit Mailand oder Barcelona verwechseln können, hätte man mich mit verbundenen hier her gebracht und anschließend raten lassen, wo ich sei. Im Verhältnis zu den nördlichen Andenländern schien Chile aus meiner Perspektive ein weitaus entwickelteres Land gewesen zu sein, was mich verwunderte, hatte schließlich die Pinochet Diktatur erst einige Jahre zuvor geendet. Auch das Klima war jetzt sehr angenehm und reizvoll war die Tatsache, als Einwohner von Santiago jederzeit in knapp über einer Stunde rund um das Jahr entweder an den Strand in Valparaisos oder zum Skifahren auf das 3.700 Meter hohe Valle Nevado  fahren zu  können.

145 Ausflug Vulkane (Copy)

Südchile

Prinzipiell wollte ich auf dieser Reise ja eigentlich nur bis Peru vorstoßen, doch ich hatte das Gefühl, es müsse immer weiter gehen. Es standen nun drei Optionen für die Weiterreise zur Auswahl. Zum einen konnte ich von Santiago aus mit einer organisierten Tour auf den höchsten Berg Südamerikas, den Aconcaqua steigen, der hinter der argentinischen Grenze mit knapp 7.000 Metern in die Höhe ragte. Als zweite Option kam ein Ausflug auf die Osterinseln in Frage und drittens die vollkommene Umrundung des Kontinents, indem ich nach Feuerland weiterreisen würde. Zeitlich wären mir alle drei Optionen offen gestanden, denn es war gleichgültig, ob ich in drei Monaten oder erst in einem halben Jahr wieder zurück nach Europa reisen würde. Allerdings hatte ich bereits deutlich mehr Geld ausgegeben, als ursprünglich geplant. Ich war hin- und hergerissen, was nun zu tun sei. Meine einzigen beiden potenziellen Ratgeber, ein reiseerfahrenes holländisches Pärchen im Nachbarzimmer meines Hotels, wollten nicht mehr mit mir reden, da ich mich zwei Tage zuvor angeblich über ihre Sprache lustig gemacht hatte, indem ich meinte, Holländisch würde für mich lustig klingen, wenn man „Bäume und Blumen“ als „Bomen en Bloemen“ ausspricht. Nach längerem Zaudern entschloss ich mich schließlich, den Weg nach Feuerland in Angriff zu nehmen und buchte ein Busticket nach Puerto Montt.

Reiseberichte:

Travel Report 3/1: In den Krieg
Travel Report 3/2: Kontrolle in Trujillo
Travel Report 3/3: Am Titicaca See
Travel Report 4/1: Durch die Klimazonen
Travel Report 4/2: Am Ende der Welt
Travel Report 4/3: Zu den Christen
Travel Report 5/1: Mode und Prostitution
Travel Report 5/2: Betrunken im Bus nach Belem
Travel Report 5/3: Am Amazonas
Travel Report 6/1: Durch den Urwald
Travel Report 6/2: In Gewahrsam

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Travel Report 4/2: Am Ende der Welt

153 Feuerland (Copy)

Magellan Straße

1995, Puerto Montt/Feuerland: Als ich die Empfehlung aussprach, aufgrund der Körper zerstörenden Wirkung des Weins, selbigen nördlich von Chile besser nicht zu trinken, ahnte ich noch nicht, was in Puerto Montt mit mir geschehen würde. Eigentlich fand ich die Art und Weise, Wein aus einfach zu transportierenden Papierkartons zu trinken, eine recht angenehme Angelegenheit. Ich Chile war das, ebenso wie in Südafrika, ohnehin bei weitem nicht so verpönt wie bei uns in Deutschland. An diesem Abend hatte ich wohl ein Glas oder einen Karton zu viel konsumiert und das gesamte Bad einschließlich der Toilette in der Pension buchstäblich für andere Gäste unannehmbar gemacht. Unfähig alles wegzuwischen, durch meine Putzaktion wurde es noch schlimmer, legte ich mich zu Bett und schämte mich am nächsten Morgen abgrundtief. In den kommenden Tagen unternahm ich Ausflüge in die Umgebung, besuchte die Lachsmärkte und den Hafen der Stadt. So weit südlich war es natürlich längst nicht mehr so warm wie noch zu Beginn meiner Reise, doch das Klima war angenehm und die Landschaft war von einer prächtigen Natur geprägt. Vermutlich, so dachte ich, sieht es hier aus wie in Kanada mit dem einzigen Unterschied, dass viele schneebedeckte Vulkane in den Himmel ragten. Die Flüsse führten kristallklares Wasser und kulinarisch konnte man sich mit der besten Sorte von Lachs in Südamerika verwöhnen. Als ich einige Tage später an die Weiterreise dachte, musste ich zu meinem Ärger feststellen, dass das Schiff von Puerto Montt nach Punte Arenas, welches die westliche Seite des südlichen Teils dieses Kontinents vorbei am ewigen Eis passierte, ausgebucht war. Die alternative Busfahrt durch das zerklüftete Andengebirge, das ich am Tag meiner Abreise bei Sonnenuntergang hinter mir liegen ließ und in die unendlichen Ebenen Patagoniens einbog, war aber ebenso sehr reizvoll gewesen.

155 Feuerland (Copy)

In Feuerland

Ein strammer Wind wehte ohne Unterbrechung über die kargen, gelben Grasbüschel in der Gegend um Punte Arenas herum. Hier und dort sah man einen Pelikan durch die Landschaft watscheln, es war kalt und öde. Dennoch war ich stolz, nun in der südlichsten Stadt der Welt zu sein, gleichwohl ich wusste, dass es noch Ushuaia weiter südlich gab, das ich aber als Versorgungsposten für Forschungsstationen abtat. Ich wohnte zur Untermiete in dem Haus einer älteren Dame, die mich mit allem herzlich umsorgte, was ich benötigte. Auf einem Ausflug in die Umgebung lernte ich ein argentinisches Kamerateam kennen. Die Journalisten mussten aufgrund des schlechten Wetters hier bereits seit Tagen auf den Überflug ins ewige Eis warten. Vermutlich um ihr Taschengeld aufzubessern, boten sie mir an, für 1.500 US-Dollar eine Woche lang mitzufliegen, was ich schweren Herzens aufgrund meiner finanziell bereits schon wieder angespannten Situation ablehnen musste. Dieser Sachverhalt sollte mich im späteren Verlauf meines Lebens noch sehr oft in Ärger versetzen, hatte ich doch eine große Chance verpasst. Auf der anderen Seite lagen aber noch gut 15.000 Kilometer vor mir, um wieder nach Kolumbien zurück zu kommen, von wo aus mein Rückflug nach Europa starten sollte. Mein durchschnittlicher Tagesetat für die kommenden Wochen wurde kleiner und kleiner, doch Gott sei Dank, hatte ich meine Bankkarte bei einem Freund in Deutschland gelassen, der dadurch in der Lage war, jederzeit Geld einzubezahlen, was ich in Südamerika abholen konnte. Die leidigen Erfahrungen mit der Botschaft in Bogota (Travel Report 2/4) hingen mir noch immer nach.

Reiseberichte:

Travel Report 3/1: In den Krieg
Travel Report 3/2: Kontrolle in Trujillo
Travel Report 3/3: Am Titicaca See
Travel Report 4/1: Durch die Klimazonen
Travel Report 4/2: Am Ende der Welt
Travel Report 4/3: Zu den Christen
Travel Report 5/1: Mode und Prostitution
Travel Report 5/2: Betrunken im Bus nach Belem
Travel Report 5/3: Am Amazonas
Travel Report 6/1: Durch den Urwald
Travel Report 6/2: In Gewahrsam

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Travel Report 5/1: Mode und Prostitution

212 Ciudad del Este (Copy)

Ciudad del Este

1995, Paraguay/Rio: In Ciudad del Este drängelten die Busse in Zweier- und Dreierreihen auf der matschigen Piste entlang bis an den Horizont. Nicht die eindrucksvollen Iquazu Wasserfälle hier an der Grenze zwischen Paraguay und Brasilien lockten derartige Massen von Menschen an, es waren die für brasilianische Verhältnisse besonders günstigen Waren, die es hier gegeben hat. Was für eine Tortur, dachte ich, nehmen die Leute auf sich, nur um ein paar Dinge etwas günstiger kaufen zu können. Es war wieder einmal drückend heiß und ich entschloss mich dazu, eine meiner beiden Hosen zu kürzen. Gleich der erste Anlauf schlug fehl, denn die beiden gekürzten Beine waren unterschiedlich lang, was ich erst im Spiegel erkennen konnte. Als nach zwei weiteren Versuchen die Hosenbeine endlich die gleiche Länge hatten, war zu meinem Ärger schließlich im Schritt nicht mehr genug Stoff vorhanden, um auch im Sitzen alles Verdächtige zuverlässig zu verdecken. Da ich meine Jeansjacke hier im tropischen Tiefland nicht mehr benötigte, besorgte ich mir in einem Laden für Nähartikel eine Nadel und einen Faden, schnitt aus dem Rücken der Jacke zwei Streifen heraus und nähte diese an die gekürzten Hosenbeine an. Fertig war die einzigartige modische Schöpfung und sie gefiel mir so gut, dass ich sie bis nach Venezuela unentwegt tragen sollte, mit Ausnahme der Tage, an denen sie gewaschen wurde.

213 Grenze Brasilien (Copy)

Grenze Brasilien

Mein nächstes Ziel sollte Brasilien sein, wohin ich nach zwei Tagen in der überfüllten Stadt des Ostens aufbrach. Als der Bus, der direkt nach Rio de Janeiro fuhr, die Grenze zwischen Paraguay und dem großen Nachbarland passierte, schlief ich in aller Seelenruhe. Eigentlich war es eine freundliche Geste von den brasilianischen Grenzbeamten, mir meine Ruhe zu lassen, nur hatte ich nun das Problem, dass mir der Einreisestempel fehlte und ich mir Sorgen um die Ausreise machen musste. Dieser Sachverhalt aber fiel mir erst am kommenden Tag ein, ich schlief die gesamte Fahrt über und wachte im Morgengrauen gegen halb sechs Uhr auf. Von dem angehobenen Straßenverlauf der Autobahn konnte ich ein Meer von Wellblechhütten überblicken, welches erst weit im Hintergrund von grauen, gleichförmig gebauten Hochhäusern begrenzt wurde. Hier und dort sah man Müllberge, auf denen nackte und halbnackte Menschen herumliefen, und eine apokalyptisch anmutende schwarze-gelbe Wolkenfront bedeckte den Himmel. Ich war in Sao Paulo angekommen und es sollte noch sechs Stunden bis Rio de Janeiro dauern, wo ich aufgrund meines zunehmenden Geldmangels zum ersten Mal auf der Reise in einer Jugendherberge absteigen musste. Als wir in das Zentrum von Rio einfuhren überkam mich ein mulmiges Gefühl. Ich hatte Respekt vor der Stadt in der ich ankam, als ich die Favelas und die wackeligen Backsteinhäuser an den Hängen sah. Der Busbahnhof, war ein ungeheures, verschachteltes Bauwerk aus massiven Betonelementen in dem ich es mit der Angst zu tun bekam. Nachdem die anderen Passagiere aus dem Bus verschwunden waren, hielt sich außer mir kaum mehr jemand in dem Gebäude auf. Es handelte sich auf jeden Fall nicht um den zentralen Busbahnhof, das wusste ich und machte mich auf, um so schnell wie möglich an die Copacabana zu kommen.

Die sogenannte Jugendherberge lag etwas angehoben auf einem Hügel zwei Querstraßen hinter den Prachtgebäuden des wohl berühmtesten Strandes der Welt und war schon von Wellblechhütten umringt, in denen verschiedene Artikel zum Kauf angeboten wurden oder die als Gaststätten für Schnaps und Bier dienten. Allem Anschein nach war die vordere Häuserfront der Promenade ohnehin nur eine schmückende Fassade für die hässlichen Gebäude und Hütten dahinter. Ich bekam von dem Sohn des Besitzers der Einrichtung, der ebenfalls zwanzig Jahre alt war und mit dem ich mich bald angefreundet hatte, ein Bett in einem Schlafsaal zugewiesen. Entgegen meiner Erwartungen waren hier keine Jugendlichen aufzufinden, vielmehr nächtigten zwei Wanderarbeiter zusammen mit mir in den quietschenden Stockbetten einer riesigen Halle. Frisch geduscht ging ich mit meinem neuen Kumpel zu den Wellblechhütten hinunter und feierte dort mit ihm und mit einem Getränk namens „51“ einige Stunden lang bei lauter lateinamerikanischer Musik, die allerorts aus den Lautsprechern dröhnte. Als sich schließlich für meinen Geschmack zu viele verlebte Gestalten um uns herum angesammelt hatten, zog ich mich in das nahegelegene Gebäude zurück und ging zu Bett.

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Am Zuckerhut

Die folgenden beiden Tage waren von Hektik und Organisationsstress geprägt. Zunächst versuchte ich bei der Immigrationsbehörde einen Stempel zur Offizialisierung meiner Einreise und für meinen Aufenthalt in Brasilien zu bekommen. Von hier aus schickte man mich zu einer zweiten Behörde, die mich wiederum an eine dritte verwies, von der ich zurück zur Immigrationsbehörde gesendet wurde. So ging das den gesamten Tag über, bis sich endlich ein Beamter erbarmte und einen Stempel samt Schriftvermerk über den Sachverhalt in meinem Pass setzte. Am folgenden Tag sprach ich bei der österreichischen Botschaft vor, um hier Bescheid zu geben, das mir die Mittel spätestens in Caracas ausgingen und ein Bekannter aus Deutschland Geld einbezahlen würde, welches ich anschließend in der Venezuelanischen Hauptstadt abholen wollte. Anders als im Jahr zuvor in Kolumbien war man sehr freundlich und versprach mir, mich bei der Transaktion zu unterstützen. Die Botschaft lag direkt an der vordersten Front der Copacabana, so dass ich die Gelegenheit nutzte, um hier in einem nahe gelegenen Cafe ein Bier zu trinken. Kaum hatte ich mich gesetzt, wurde ich schon von zwei verlausten Straßenkindern angebettelt. Der Barkeeper sprang heraus und malträtierte die Kinder mit Fußtritten und Ohrfeigen, so dass sie schnell wieder verschwanden. Das waren ja Weiße mit blonden Haaren, schoss es mir erschrocken in den Kopf, um gleich darauf ein schlechtes Gewissen für diesen spontanen Gedanken zu bekommen.

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Copacabana

Die Jugendherberge entsprach ganz und gar nicht dem, wonach sie aussah. Es stellte sich heraus, dass ich der einzige in dieser Einrichtung war, der einen typischen Gast hätte darstellen können. Neben den Wanderarbeitern waren die beiden obersten Stockwerke für eine Vielzahl an Prosituierten reserviert, die dort halbnackt herumliefen und bei denen ich allabendlich mit dem Sohn des Besitzers der „Jugendherberge“ einen Besuch abstattete. Es wäre alles gratis für mich als Freund, meinte er immer wieder. Ich ließ aber aus Angst vor Krankheiten und auch davor ausgeraubt oder bestohlen zu werden und wegen meiner Freundin zu Hause in Deutschland, die Finger von den Damen. Außerdem war das eine oder andere Mädchen sehr aggressiv, wie ich feststellte, als ich unter großem Geschrei eines Abends einen Stuhl auf dem Balkon räumen musste, da eine der Damen mir zu verstehen gab, dass es der ihrige wäre. Ich vermutete im besten Falle Kokain und im schlimmsten Falle billige Abfalldrogen hinter diesem Verhalten, schließlich handelte es sich um Straßenprostituierte, deren Tagesablauf darin bestand, sich Nachts das Geld zu verdienen, es anschließend in einer der Wellblechbars zu verprassen und tagsüber durchzuschlafen.

Reiseberichte:

Travel Report 3/1: In den Krieg
Travel Report 3/2: Kontrolle in Trujillo
Travel Report 3/3: Am Titicaca See
Travel Report 4/1: Durch die Klimazonen
Travel Report 4/2: Am Ende der Welt
Travel Report 4/3: Zu den Christen
Travel Report 5/1: Mode und Prostitution
Travel Report 5/2: Betrunken im Bus nach Belem
Travel Report 5/3: Am Amazonas
Travel Report 6/1: Durch den Urwald
Travel Report 6/2: In Gewahrsam

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